Am Nachmittag ist die Sotero dos Reis-Straße noch feucht vom Regen der Nacht. Der beißende Geruch nach Alkohol und Urin liegt in der Luft. Auf den Gehsteigen sammeln sich Müllberge, dröhnende Musik beschallt die Umgebung. In den Bars sitzen die Frauen leicht bekleidet auf den Terrassen und warten auf Kunden. Vila Mimosa ist das größte und älteste Prostituiertenviertel von Rio de Janeiro. 1500 Frauen arbeiten hier in Schichten und bieten mindestens doppelt so vielen Männern täglich ihre Dienste an.
Autorin
Hanna Silbermayr
ist freie Journalistin aus Österreich. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Magazine über und aus Lateinamerika.Das Viertel hat Tradition, doch Politik und Gesellschaft würden seine Existenz am liebsten leugnen. In der Vergangenheit wurden die Sexarbeiterinnen immer wieder von ihren angestammten Plätzen vertrieben. 1996 mussten die Bordelle in der Nähe des Zentrums von Rio de Janeiro einem hochmodernen Telekommunikationszentrum weichen.
Damals fanden die Frauen in einem alten Industrieviertel zwischen zwei Eisenbahnstrecken einen neuen Ort für ihre Arbeit. Vier Straßen umfasst die Vila Mimosa heute, inzwischen hat sie sich zu einem Mikrokosmos aus Bordellen, Bars, Verkaufsständen und kleinen Wohnhäusern entwickelt. Zuletzt drohte ein großes Verkehrsprojekt: Ein Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo sollte direkt durch das Viertel führen. Doch die Frauen der Vila Mimosa haben andere Pläne.
In der Ceará-Straße, nur wenige Meter von den Bars entfernt, steht zwischen Motorradwerkstätten und Rockclubs ein unscheinbares Gebäude. Seit 20 Jahren arbeitet Cleide Almeida hier, ihre Gäste empfängt sie in einem der provisorisch eingerichteten Unterrichtsräume. Die 50-Jährige ist Sozialarbeiterin bei AMOCAVIM, der Interessenvertretung der Sexarbeiterinnen der Vila Mimosa. Die energiegeladene Frau mit rot gefärbtem Haar und blau lackierten Fingernägeln kennt die Vila Mimosa wie ihre eigene Westentasche.
Der Name des Viertels steht für 24-Stunden-Betrieb und billigen Sex. Umgerechnet zehn Euro kostet eine halbe Stunde Programm. Viel weniger als an der zehn Kilometer weit entfernten Copacabana. Vor allem Frauen aus armen Vororten kommen zum Arbeiten in die Vila Mimosa. Viele hätten sich von ihren Partnern getrennt und müssten plötzlich das Geld für die Kinder alleine aufbringen, sagt Almeida. „Sie kommen mit der Idee, vorübergehend hier zu arbeiten. Ein Großteil aber bleibt in der Vila Mimosa hängen.“
Cleide Almeida ist in dem Rotlichtviertel groß geworden. Der Vater war Alkoholiker, schlug die Mutter immer wieder. Als Cleide sieben Jahre alt war, verließ die Mutter mit den zehn Kindern den gewalttätigen Mann und begann zuerst als Schneiderin, später als Köchin in der Vila Mimosa zu arbeiten. „Mit 18 habe ich den Verkaufsstand übernommen“, sagt Cleide Almeida. In der Prostitution gearbeitet hat sie nie. Doch sie kennt die Frauen des Viertels, ihre Schicksale und Sorgen.
Als die Sexarbeiterinnen 1996 umziehen mussten, ging sie mit und begann, für AMOCAVIM zu arbeiten. Cleide Almeida koordiniert die Sozial- und Gesundheitsprojekte der Organisation. Viele der Frauen wollten aus der Prostitution aussteigen, sagt sie. Dazu gebe es nur einen Weg: Bildung. Genau darauf setzt AMOCAVIM und steht dabei vor allem für eines: Selbstermächtigung.
Das erkannte auch Guilherme Ripardo, als er 2005 ein Thema für seine Abschlussarbeit suchte. Der Architekturstudent schlug sich die Wochenenden in den Rockbars der Ceará-Straße um die Ohren. „Dass sich gleich nebenan ein Prostituiertenviertel befindet, war mir lange nicht bewusst“, sagt er. Ursprünglich wollte Guilherme die Ceará- Straße neu gestalten. Je länger er sich aber mit deren Umgebung beschäftigte, umso deutlicher wurde ihm, dass in dem Viertel etwas anderes gebraucht wird.
„Ich habe mich damals mit vielen Prostituierten unterhalten“, sagt er. Der heute 36-Jährige wollte herausfinden, welche Bedürfnisse diese Frauen, die von Politik und Gesellschaft verachtet werden, wirklich hatten. „Ich wollte etwas erschaffen, das ihnen das Überleben in der Vila Mimosa erleichtert und sie näher an die Gesellschaft rückt.“ Es war der Beginn der „Cidade das Meninas“, der Stadt der Mädchen.###Seite2###
Ripardo klappt sein Notebook auf und zeigt auf eine Zeichnung, auf der zwei Frauenkörper abgebildet sind. Einer ausgestreckt, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt. Der andere zusammengerollt, in Embryonalstellung. „Die meisten Prostituierten sind zugleich Mutter und Sexarbeiterin“, sagt er. Dieser doppelten Rolle will er gerecht werden. Er will die Gebäude, in denen sie sich aufhalten und arbeiten, freundlicher und einladender machen. Unzählige Stunden verbrachte er mit Cleide Almeida. „Es ging vor allem um eines: Wie soll die Zukunft aussehen?“, sagt sie. Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit überzeugt sie.
Die Gebäude in Anordnung der beiden Frauenkörper, die Ripardo entworfen hat, bieten Platz für eine Vielzahl an Aktivitäten außerhalb der Prostitution. „Hüfte und Beine der sich hingebenden Frau können für Präsentationen und Veranstaltungen verwendet werden“, erklärt er. Aus hellem und transparentem Material soll dieser Teil sein, nicht abgeschottet vom Rest der Welt. Die Frauen der Vila Mimosa wollen ihn für eine Ausstellung über die Geschichte der Prostitution in Brasilien und ihrem Viertel nutzen. Kopf und Arme könnten das Weiterbildungszentrum beherbergen.
Die andere Figur, die für die Rolle der Mutter steht, hat einen intimeren Charakter. Viele Prostituierte nehmen ihre Kinder zur Arbeit mit und geben sie in einer Art Kinderkrippe ab. Die soll nun im Schoß des zusammengerollten Frauenkörpers unterkommen. „Es muss einen organisierten, geschützten Raum für diese Kinder geben“, erklärt Ripardo. Der Bereich des Kopfes widmet sich dem Wohlergehen der Frauen selbst: ihrer Gesundheit. Hier soll der Arzt, der schon heute ehrenamtlich Untersuchungen anbietet, seinen Platz haben.
Bis jetzt ist das Projekt nur ein Traum. Cleide Almeida hat eine Zeit lang gemeinsam mit Guilherme Ripardo nach Geldgebern gesucht. Doch keine politische Institution zeigte Interesse. Nur wenige Politiker engagieren sich für eine ausgegrenzte Gruppe wie die Prostituierten. „Das würde für sie das Ende ihrer Karriere bedeuten“, räumt Cleide Almeida ein, die ein großes Netz von Kontakten hat.
Inzwischen scheint es zumindest, als hätte sich die Regierung von dem Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo verabschiedet. Der Baubeginn wurde mehrfach verschoben, zuerst auf das Jahr 2016, wenn in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele ausgetragen werden, dann auf 2020. Konkrete Informationen, wie es damit weitergeht, gibt es nicht. Cleide Almeida ist aber zuversichtlich, dass sie nicht um das Weiterbestehen der Vila Mimosa am jetzigen Ort kämpfen muss.
Noch vor der Fußball-Weltmeisterschaft hat sich außerdem eine Firma mit Sitz in London bei ihr gemeldet, die Projekte im Bereich Museen und Ausstellungen entwickelt und umsetzt. Sie wollte mehr über die „Stadt der Mädchen“ erfahren und lässt – wie sie auf eine schriftliche Anfrage bekannt gibt – derzeit Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Für die Sozialarbeiterin Cleide Almeida und den Architekten Guilherme Ripardo ist das ein erster Erfolg. Und wenn die „Stadt der Mädchen“ Wirklichkeit wird, hätte Cleide Almeida endlich Zeit, sich voll und ganz auf Weiterbildungsprogramme zu konzentrieren – damit die Prostituierten die Chance haben, aus ihrem Leben noch mehr zu machen.
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