Mutter Erde hilft beim Lernen

Kleinbauern im Hochland Perus entdecken alte Kenntnisse über Handwerk, Landbau und Kleinbewässerung neu. Das bringt ihnen gute Ernten – und fördert den Zusammenhalt.

Geduldig beobachtet Carlos Smit Callata Flores die Aymara-Frau. Zum ersten Mal webt sie ein Tuch an dem Webstuhl aus Holzpflöcken und Stöcken. Wenn sie nicht mehr weiter weiß, nimmt der Junge den Schlegel und ordnet die Fäden, die sich verwirrt haben. Kurz darauf ruft ihn ein junger Mann zu Hilfe, der an einem Schal sitzt. Eigentlich ist Carlos Vater der Ausbilder. Doch an dem Webkurs  auf dem Feld neben der Schule von Umuchi im peruanischen Hochland nehmen 35 Schülerinnen und Schüler teil. Und alle wollen ihre Stücke fertigbekommen. Da ist der siebenjährige Carlos, selbst fast schon ein Meister, eine willkommene Unterstützung.

Autor

Peter Strack

ist Soziologe und schreibt regelmäßig für den latin@rama-Blog der taz sowie die Zeitschrift ila.

Lange Zeit stand das Webehandwerk in der Gemeinde im Distrikt Moho nicht besonders hoch im Kurs. Die traditionelle selbst hergestellte Kleidung war wenig beliebt, es erschien einfacher und billiger, industriell gefertigte Kleider in der Stadt zu kaufen. Doch seit die Bauern wieder Lamas und Alpakas züchten, verfügen sie auch wieder selbst über die teure Wolle der Tiere. Und die gibt in den zeitweise extrem kalten Nächten in mehreren tausend Metern über dem Meeresspiegel und selbst bei Schnee- oder Hagelstürmen den nötigen Schutz. 

In die Tücher werden außerdem Hinweise auf die Geschichten des Ortes oder der Familie eingewebt, die Wünsche für die Tochter bei der Heirat, die Rolle eines bestimmten Tieres im Agrarzyklus oder die Bedeutung des Amtes, das ein Dorfvorsteher gerade ausübt. Sie halten nicht nur warm, sondern werden auch als Ausdruck der kulturellen Identität wieder neu geschätzt.

Trotz der eifrigen Arbeit am Webstuhl bleibt Zeit genug, gemeinsam Kartoffeln, Zwiebelsoße und Forellen aus dem in Sichtweite gelegenen Titicacasee zu essen. Und obwohl die Mehrzahl der Dorfbewohner Adventisten sind, die „heidnische Bräuche“ lange bekämpft haben, wird nach dem christlichen Gebet ein Koka-Ritual durchgeführt: Mutter Erde soll beim Lernen behilflich sein.

Gilma Mamani Gutiérrez hat den Kurs in Umuchi organisiert. Sie ist ehrenamtliche Mitarbeiterin der nichtstaatlichen Organisation Chuyma Aru. In Puno, der Hauptstadt der gleichnamigen Region, hat sie eine Fortbildung darüber besucht, wie die andine Agrarkultur wiederbelebt werden soll. Für Gilma ist das nicht unbedingt neu: Ihr Vater hat ihr viel über traditionelle Landwirtschaft, Rituale und die Zeichen der Natur beigebracht – etwa, dass die Blüte der Tunas, der Kaktusfrüchte, die vor ihrem Haus wachsen, Auskunft darüber gibt, wie die Kartoffelernte ausfallen wird. „Viele lange Stunden hat er mir erzählt“, erinnert sich Gilma, und ihrer Stimme ist noch immer die Trauer über den Tod des Vaters vor mehr als drei Jahren anzumerken. „Und er hat mich gelehrt, meine Pflicht zu erfüllen und zu den Versammlungen der Gemeinde zu gehen.“

Männliche Blicke sind eine Gefahr für das Saatgut

Walter Chambi und die anderen Kollegen von Chuyma Aru haben Gilma motiviert, den Weg ihres Vaters weiterzugehen und selbst eine Führungsrolle in der Gemeinde zu übernehmen. Vor kurzem brannte ihr Haus aus. „Es gibt Menschen, die neidisch sind“, mehr will sie dazu nicht sagen.

Die Besucher sollen in ihre mit Wellblech gedeckte Lehmhütte nicht hineinschauen. Dort bewahrt sie ihr Saatgut auf, und Blicke von Männern gelten als Gefahr für die Fruchtbarkeit.

Die kleinen Gemüsefelder im Vorgarten sind von Steinwällen gesäumt, die bunten Blumen und kleinen Aprikosenbäumen Schutz geben. Sie stehen in sattem Grün, versorgt mit Wasser aus einem einfachen Erdkanal. Den habe es schon früher gegeben, berichtet Gilma, aber man habe ihn nicht mehr gepflegt. Vor ein paar Wochen setzten ihn die Nachbarn gemeinsam wieder instand. Am Kanal entlang führt Gilma auf die Bergkuppe, unter der sich die Weite des Titicacasees zeigt, des höchst gelegenen schiffbaren Binnensees der Welt.###Seite2###

Früher habe man aus dem Totora-Schilf am Ufer noch Boote gefertigt, erzählt sie. Damals gab es bis zum See hinab Terrassen. Doch davon ist kaum mehr als ein Abhang voller Geröll zu erkennen. Die Erde ist weggeschwemmt. Zwischen den Steinen der zerfallenen Mauern wächst neben Blumen, deren Blüten Auskunft über das Wetter oder die Bodenbeschaffenheit geben, auch der Muña-Strauch, ein Heilmittel.

„Hier gibt es eine Menge zu tun“, bemerkt Walter Chambi trocken. Gilma lächelt nur. Sie hat das bereits in die Wege geleitet. 25 Familien haben sich bereit erklärt, die Terrasse wiederherzustellen. Künftig soll dort unter der strahlenden Sonne wieder eine Vielfalt von Kartoffel- und Quinoasorten wachsen, die auch bei schwierigen Wetterbedingungen eine sichere Mindesternte garantieren soll.

Der Himmel ist nur leicht bewölkt und der See unter dem Hügel liegt in tiefem dunklen Blau. Bei diesem Anblick gerät leicht in Vergessenheit, dass das Wasser auf Quecksilber aus Goldbergwerken untersucht wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Forellen, die in den künstlichen Gehegen in dem paradiesisch erscheinenden See heranwachsen, mit Schwermetallen belastet sind. Langzeitschäden des Immun-, des Herz-Kreislauf- und des Nervensystems, die vor allem die Entwicklung der Hirnfunktion bei Kindern beeinträchtigen, sind nicht auszuschließen.

Die bolivianisch-peruanische Seebehörde hat zudem versucht, das Sinken des Wasserspiegels infolge der Klimawandels durch eine Staumauer am Abfluss des Sees auszugleichen. Die Folge: Die Fäkalien aus der Stadt Puno verfaulen jetzt im Wasser, erklärt Agraringenieur Walter Chambi, statt in der Trockenzeit am Flussufer getrocknet und von der Sonne desinfiziert zu werden. Auch können die Bauern während der Trockenzeit, wenn die Erntevorräte knapp werden, keine anderen Produkte mehr auf diesen Flächen anbauen, die dann unter Wasser stehen. Da ist es umso wichtiger, dass die Familien mit Gilma durch die Terrassierung neues Ackerland gewinnen.

Erfolgversprechender als den See zu stauen ist das, was die Mitarbeiter von Chuyma Aru „Wasser­ernte“ nennen. Das Prinzip ist einfach: In den Hochlagen der Anden wird der Regen, der zunehmend sturzbachartig vom Himmel fällt, in Teichen gesammelt. Er sickert in den Boden und tritt weiter unten, wo die Äcker liegen, in Form von neu entstehenden Quellen wieder zu Tage. Sie füllen kleine Tümpel, mit denen das Vieh getränkt und die umliegenden Weiden oder Äcker bewässert werden können.

In den Tümpeln können Fische – ohne Quecksilber – aufgezogen werden. Mit der Zeit siedeln sich Frösche an, die auch in den Anden Wetterhinweise geben. Wild lebende Vögel bekommen eine Heimstatt und können im Schutz kleiner Sträucher oder der Heilkräuter, mit denen die Ränder der Tümpel bepflanzt werden, brüten.

Natürlich nur, wenn alles gut geht – und das heißt auch: wenn die Bergbauunternehmen halt vor den kleinbäuerlichen Gemeinden machen. Walter Chambi führt uns in entgegengesetzter Richtung zum See ein kurzes Stück weiter, hoch auf einen Berggipfel. Ein Unternehmen soll Hinweise auf Erdölvorkommen in der Region gefunden haben, berichtet er. In der sauerstoffarmen Höhe ist er etwas kurzatmig geworden. Als der Bürgermeister von Moho mit der argentinischen Delegation verhandeln wollte, hätten sich die Bauern auf dem Hauptplatz der Provinzstadt zum Protest versammelt. Das Ölunternehmen sei danach erst einmal nicht mehr gesehen worden. ###Seite3###

Die Organisation Chuyma Aru und die Bauern haben anderes vor. Chambi zeigt auf einen zerfallenen Steinwall und eine sparsam fließende Quelle. Hier soll das Rückhaltebecken wieder hergerichtet und erweitert werden, in dem früher schon das kostbare Nass zur Bewässerung gesammelt worden war.

Die Methoden, die Chuyma Aru lehrt, sind nicht neu, und es ist etwas kurios, dass ein Agraringenieur aus Puno den Bauern  das Wissen vermittelt, das aus ihrer eigenen Tradition kommt – selbst wenn er an den Ufern des Titicacasees in der Nachbarprovinz Conima aufgewachsen ist. Chambi erzählt, wie er vor vielen Jahrzehnten als staatlicher Mitarbeiter damit beauftragt war, den Bauerngemeinden am Titicacasee Entwicklung zu bringen. Große Eukalyptuswälder wurden aufgeforstet, der Boden trocknete aus, Ackerland verschwand.

Doch etwas anderes machte Chambi, inzwischen im Pensionsalter, stutzig. Mit Kooperativen und technischem Fortschritt sollte die kleinbäuerliche Landwirtschaft produktiver gemacht werden. Doch nach anfänglichen Erfolgen mit neuen Hochertragssorten musste Chambi feststellen, dass die Erträge auf den von ihm nach dem neuesten agrarwissenschaftlichen Stand betreuten Gemeinschaftsfeldern geringer waren als auf den Parzellen der Kleinbauern.

Zum einen waren den Bauern der Dünger und die chemischen Pflanzenschutzmittel zu teuer, sobald die staatlichen Subventionen wegfielen. Zum anderen kamen sie nur an bestimmten Tagen bereitwillig zur Arbeit auf das Land der Kooperativen, an anderen bestellten sie nur ihre eigenen Felder. Und diese Tage waren laut den natürlichen Wetterindikatoren und den Regeln über den Astralzyklus am günstigsten für die Aussaat, die Pflege und die Ernte. Nur die schlechten Tage widmeten sie der Kooperative, wie sie Chambi bereitwillig erzählten. Seit dieser Zeit lässt er sein akademisches Wissen ein wenig ruhen und interessiert sich sehr für die Kenntnisse der Kleinbauern, die, auch aufgrund solcher Projekte wie seinen eigenen in Vergessenheit zu geraten drohten.

„Die Leute von Chuyma Aru haben uns an all das wieder erinnert“, heißt es eine gute Autostunde entfernt vom Titicacasee in Suyu, nachdem das übliche Ritual mit Kokablättern, Schnaps und einem billigen Wein das Gespräch mit einer Gruppe vor allem älterer Männer und vieler Frauen eröffnet hat.

Der See und der Müll

Drei große Gefahren bedrohen die Natur und die Lebensgrundlagen der Bauernfamilien an den Ufern und in den Bergen rund um den knapp 4000 Meter hoch gelegenen Titicacasee im bolivianisch-peruanischen Grenzgebiet ...

Anfangs seien sie sehr skeptisch gewesen. Aber nun seien sie zufrieden. Sie hätten andere Sorten Kartoffeln angepflanzt, die sie von Chuyma Aru erhielten, und gute Erfahrungen damit gemacht. Und sie hätten sich entschieden, ganz auf biologischen Anbau umzustellen. Vor jeder Gemeinschaftsaktion werde Mutter Erde um Erlaubnis und Unterstützung gebeten. 

Solche Rituale fördern nicht nur die Rücksicht auf die Natur und ihre komplexen Mechanismen, sondern auch den Zusammenhalt der Gemeinde. Der ist nötig, damit nicht einer das kaputt macht, was die anderen schützen möchten. Und Geld für ihre Arbeit zu fordern, wie in manchen Gemeinden, in denen Chuyma Aru deshalb erst einmal die Arbeit ruhen lässt – auf diese Idee kämen sie hier nicht mehr, sagen sie. Was sie bekommen haben, sind guter Rat, Spitzhacken, Schaufeln und Schubkarren. Mit deren Hilfe haben die Bauern und Bäuerinnen schon zehn kleine Felder mit Steinwällen eingefriedet; 40 sollen es werden.

Auch zehn kleine Tümpel zeigen die Bauern an den Hängen über dem Dorf. Heilpflanzen sind dort noch ebenso wenig zu sehen wie Frösche, aber das braucht seine Zeit. Fische wollen sie keine aussetzen. Da kämen sofort die Vögel und würden alles auffressen, heißt es. So ganz vertraut sind sie in Suyu noch nicht wieder mit der traditionellen Agrarkultur, die darauf setzt, dass alle genug zu essen haben und deshalb eine Furche des Ackers für die wilden Tiere reserviert. Aber dass die Natur ein Geschenk ist, das es zu schützen gilt, und keine Ressource, um sie auszubeuten, wissen sie auch hier.

Von oben über dem Dorf, wo es Goldvorkommen geben soll, führt ein Erdkanal ein paar Kilometer weiter in die Nachbargemeinde. Ob sie eine Entschädigung dafür bekommen, dass Nachbarn sich aus ihren Wasserquellen bedienen? „Wieso? Wasser ist Leben. Das kann man nicht verkaufen.“ Noch ist nicht entschieden, was mit dem Gold geschehen soll. Einige der Jugendlichen möchten lieber in der Stadt leben als auf dem Land als Bauern. Sie hoffen auf einen Arbeitsplatz, falls der Bergbau in Suyu aufgenommen wird. „Gold kann man nicht essen“, sagen dagegen die anderen. Zwar bringe es heute ein Einkommen – aber den künftigen Generationen möglicherweise nicht. 

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erschienen in Ausgabe 9 / 2014: Atomwaffen: Abrüstung nicht in Sicht
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