Verstrahlte Heimat

Atomwaffentests
Die USA haben im Pazifik 67 Atombomben getestet. Die Folgen wurden jahrzehntelang vertuscht. Inzwischen kämpfen die Enkel der Opfer für eine Entschädigung.

Die größte Bombe zündete am 1. März 1954. Im Rahmen der Operation „Castle“ testeten die USA im Pazifik die Wasserstoffbombe „Bravo“. Mit einer Sprengkraft von 15 Megatonnen war sie die stärkste thermonukleare Waffe der Amerikaner. Einwohner der Marshallinseln waren auf vielen Atollen dem radioaktiven Niederschlag ausgesetzt. Ebenso erging es US-Soldaten, die die Wetterbedingungen beobachteten, und japanischen Fischern, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe befanden.

Von 1946 bis 1958 detonierten auf dem Bikini- und dem Enewetak-Atoll insgesamt 67 Atomwaffen. Beide Atolle zählen zur Republik Marschallinseln, ihre Einwohner wurden wegen der Atomwaffentests umgesiedelt. Dutzende von Inseln in der Region wurden in dieser Zeit radioaktiv verseucht – und an diesem Erbe tragen sie schwer bis in die Gegenwart. Seit der Detonation von „Bravo“ auf Bikini sind mehr als sechzig Jahre vergangen. 2010 wurde das Atoll zum Unesco-Welterbe erklärt. Aber dauerhaft leben kann hier niemand. 

Autor

Giff Johnson

ist Herausgeber der Wochenzeitung „The Marshall Islands Journal“ (www.marshallislandjournal.com) und Autor des Buches „Don’t Ever Whisper: Darlene Keju – Pacific Health Pioneer, Champion for Nuclear Survivors” (www.donteverwhisper.com).
In den 1960er Jahren waren mehr als 100 Bikinianer zurückgekehrt, nachdem ihnen Wissenschaftler versichert hatten, es sei ungefährlich.Schnell wurde jedoch festgestellt, dass die radioaktive Strahlung zu hoch ist, und sie wurden wieder evakuiert. Seitdem leben die Ureinwohner von Bikini verstreut auf Majuro, Kili und Ejit, anderen Atollen der Marschallinseln und in den USA. Laut der US-Regierung ist die Strahlung in der Region zurückgegangen, doch die Menschen sind skeptisch. Eine baldige Rückkehr zeichnet sich nicht ab.

Vor fast 30 Jahren unterzeichneten die USA und die Marshallinseln ein Abkommen zur Entschädigung der Opfer; es ist Teil eines umfassenderen Vertrages (Compact of Free Association) zwischen den beiden Ländern. Die USA behielten die militärische Kontrolle über die Marshallinseln und dürfen auf dem Kwajalein-Atoll ein Testgelände für Geschütze nutzen. Die Marshallinseln erhalten im Gegenzug Zahlungen für die Folgen der Atomtests, Zuschüsse an die Regierung und den visafreien Zugang für ihre Bürger in die USA, um dort zu leben, zu arbeiten und zu studieren.

Alle US-Regierungen versuchten die Folgen zu vertuschen

Ein Entschädigungsfonds wurde eingerichtet, der mit 150 Millionen US-Dollar gefüllt werden sollte. Er sollte den vier Atollen Bikini, Enewetak, Rongelap und Utrik zugutekommen, die von der US-Regierung als radioaktiv verseucht anerkannt wurden. Ferner wurde ein Gesundheitsprogramm aufgelegt. Ein spezielles Gremium, das Nuclear Claims Tribunal, sollte über alle Forderungen von Opfern der Atomtests entscheiden.

Seit den Tests haben alle US-Regierungen versucht, deren Folgen zu vertuschen. Als die Vertreter der Marshallinseln über die Entschädigung verhandelten, hatten sie keinen Zugang zu den geheimen Dokumenten, die das Ausmaß des Fallouts belegen. Erst zwölf Jahre nach Verabschiedung des Abkommens gaben die USA Geheimberichte frei, laut denen sich die Verseuchung keineswegs auf die vier Atolle beschränkte. Jede Insel der Region war der nuklearen Belastung ausgesetzt.

2006 stellte das Nuclear Claims Tribunal die Entschädigungszahlungen ein, weil kein Geld mehr da war. Bis dahin hatte das Gremium mehr als 2000 Bewohnern der Marshallinseln 96,6 Millionen US-Dollar für persönliche Schäden zugesprochen – der Fonds verfügte aber nur über 73,5 Millionen US-Dollar. Das Tribunal erkannte außerdem Bikini, Enewetak, Rongelap und Utrik 2,3 Milliarden US-Dollar zu, um die Umweltfolgen der radioaktiven Verseuchung zu bewältigen. Auch hier reichten die Mittel des Fonds nicht: Nur Bikini und Enewetak erhielten symbolische Zahlungen von 3,9 Millionen US-Dollar.

Bikini und Enewetak strengten im selben Jahr erneut Klagen an, die 20 Jahre zuvor bereits von US-Gerichten zurückgewiesen worden waren. Damals lautete die Begründung, die US-Regierung habe mit dem Nuclear Claims Tribunal eine Instanz geschaffen, die für die Zahlung von Ansprüchen zuständig sei. Ende 2007 wurden die Klagen der Insel-Vertreter erneut abgewiesen. Der US-Supreme Court lehnte eine Anhörung der Fälle ab. Die Bewohner der Marshallinseln können somit nicht weiter vor US-Gerichten klagen – und das nimmt dem US-Kongress den Druck, sich mit dem Erbe der Atomtests zu beschäftigen.

Ende 2012 befasste sich der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen, Calin Georgescu, in einem Bericht mit den Folgen der Atomtests auf den Marshallinseln. Die Tests hätten die Menschenrechte der Einwohner verletzt, betonte er darin. „Die Folgen der Strahlung wurden noch verschärft durch die Verseuchung der Umwelt, die kaum rückgängig zu machen ist.“ Georgescu forderte die US-Regierung auf, die vom Nuclear Claims Tribunal zuerkannten Gelder zu zahlen.

150 Millionen Dollar müssen reichen

Die US-Regierung hält dagegen, mit dem 150-Millionen-Dollar-Entschädigungsfonds seien die Ansprüche ein für alle Mal geregelt. Weitere Zahlungen seien nicht erforderlich. Nach wie vor finanzieren die USA zwar in begrenztem Umfang medizinische Programme für Menschen, die von den Atomtests betroffen waren, sowie wissenschaftliche Untersuchungen und die Überwachung des Gebiets. Umfangreiche Epidemiologische und radiologische Studien auf den Marschallinseln fehlen jedoch – eine Lücke, die UN-Sonderberichterstatter Calin Georgescu geschlossen sehen möchte. Er empfahl, die Marshallinseln sollten sich für solche Untersuchungen an UN-Organisationen wenden, und verwies auf Studien, die die Internationale Atomenergieorganisation an Teststätten für Atomwaffen in anderen Ländern vorgenommen hat.

Georgescu appellierte außerdem an die USA, den Marshallinseln vollständigen Zugang zu ihren Informationen und Aufzeichnungen über die militärische Nutzung der Marshallinseln und die Folgen für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen zu gewähren. Auch 58 Jahre nach dem letzten Atomtest auf den Marshallinseln bleiben viele Berichte zu den Atomtests geheim. Sie lagern fest verschlossen in Tresoren der US-Regierung.

Der Präsident der Marschallinseln, Christopher Loeak, erklärte bei einer Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Bravo-Wasserstoffbombentests im März, zwar verbinde sein Land nach wie vor eine sehr enge Freundschaft mit den USA. Doch bei den Folgen der Atomtests sei noch nicht alles geregelt. Das Entschädigungsabkommen sei nicht in gutem Glauben ausgehandelt worden, kritisierte Loeak. Es ermögliche keine faire und angemessene Regelung der Schäden, die durch die Tests verursacht wurden.

Von der ersten Generation leben nur noch wenige

Von den 167 Bikinianern, die ihre Heimat 1946 verlassen mussten, sind nur noch 30 am Leben. Sie sind alt geworden – einige ihrer Nachkommen tragen nun die Fackel weiter und kämpfen für ihre Entschädigung. „Ich verlange Gerechtigkeit für die Generation meiner Großmutter, die so viel durchgemacht hat“, sagt Lani Kramer, Ratsabgeordnete für das Bikini-Atoll. „Wir müssen uns an den US-Kongress wenden.“ Aber dazu sei die Regierung der Marshallinseln nicht bereit. Irene Abon, die auf dem Rongelap-Atoll lebt und deren Mutter dem radioaktiven Niederschlag 1954 ausgesetzt war, stimmt zu: „Von den Menschen der ersten Generation, die betroffen war, leben nur noch wenige. Ihre Probleme werden von unseren Politikern nicht zur Kenntnis genommen.“

Was wird die Zukunft bringen? Der UN-Sonderberichterstatter hat die USA noch einmal dazu aufgerufen, endlich zu handeln, um die Probleme, die ihr Atomwaffentestprogramm verursacht hat, zu lösen. Doch die Bewohner der Marshallinseln müssen sich selbst dafür stark machen, um den US-Kongress zu angemessenen Entschädigungszahlungen und zur Finanzierung von Gesundheitsprogrammen zu bewegen. Es besteht wenig Hoffnung, dass sich die USA aus eigenem Antrieb ihrem nuklearen Erbe im Pazifik stellen.

Aus dem Englischen von Bernd Stößel.


Wanderausstellung „Kein Bravo für Bikini"
Zur Geschichte der Atombombentests im Pazifik und den Folgen bietet die Pazifik-Informationsstelle eine Wanderausstellung an. Sie wendet sich vor allem an Schüler und Jugendliche und kann gegen die Erstattung von Porto- und Versandkosten ausgeliehen werden: www.pazifik-infostelle.org

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erschienen in Ausgabe 9 / 2014: Atomwaffen: Abrüstung nicht in Sicht
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