Pulverfass Südasien

Atomwaffen machen die Spannungen zwischen China, Indien und Pakistan besonders brisant. Ein regelrechter Krieg ist zwar unwahrscheinlich. Doch die Gefahr ist groß, dass Terroristen in den Besitz von Kernwaffen kommen.

Das Problem der Atomwaffen in Südasien ist Mitte 2014 wieder zum Streitthema geworden. Die Fachzeitschrift für Militär und Verteidigung  „IHS Jane’s“ schrieb im Juni, Indien erweitere seine Kapazitäten zur Urananreicherung – vorgeblich für die Kernreaktoren des Atom-U-Bootes INS Arihant, jedoch weit über dessen tatsächlichen Bedarf hinaus. Das Rechercheteam gelangte zu dem Schluss, dass Indien mit der neuen Produktionsstätte in der Anlage für seltene Metalle nahe Mysore in der Lage sei, etwa doppelt so viel waffentaugliches Uran herzustellen, wie es eigentlich braucht.

Autor

D. Swaran Singh

ist Professor für Diplomatie und Abrüstung an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi.

Die indische Regierung beschwerte sich sofort. Die Berichte seien „auf perfide Weise zur Unzeit“ platziert,  und selbst die US-Regierung wies sie als „höchst spekulativ“ zurück. Die „Enthüllung“ erschien am Vorabend der Plenarsitzung, zu der sich die Gruppe der nuklearen Lieferländer (Nuclear Suppliers Group, NSG) in Buenos Aires traf. Dort stand erstmals Indiens Antrag auf Mitgliedschaft auf der Tagesordnung. Der Gruppe gehören 48 Staaten an, die den internationalen Handel mit Nukleartechnik und -material sowie Know-how kontrollieren wollen, um die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern (siehe Beitrag Seite 12). Die Gründung der Gruppe war eine Reaktion auf Indiens ersten Kernwaffentest im Jahr 1974.

Im September 2008 hatte die NSG ein Zugeständnis gemacht und das Verbot, Kerntechnik mit Indien zu handeln, außer Kraft gesetzt. Indien bekam damit als einziger Staat, der den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, eine solche Zulassung. Damit konnte Neu-Delhi mit den USA im Oktober 2008 ein Kooperationsabkommen über die zivile Nutzung von Kerntechnik schließen. Im November 2010 äußerte US-Präsident Barack Obama zudem den Wunsch, Indien solle Mitglied der NSG werden.

China und Pakistan fürchten das. Denn damit würde Neu-Delhi ein Vetorecht über den globalen Nuklearhandel bekommen, weil die NSG nach dem Konsensprinzip arbeitet. Die NSG bleibt gespalten. Zwar machten die USA und britische Lobbyisten Druck, zudem ratifizierte Neu-Delhi am Vorabend der Plenarsitzung ein Zusatzprotokoll mit der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), das dieser mehr Kontrollmöglichkeiten über den Kernbrennstoff in Indiens zivilen Reaktoren gibt.

Pakistanische Experten beschwören das Feindbild des bösen Indien

Indien wird seit einigen Jahren zunehmend als verantwortliche Macht mit fortgeschrittener Kerntechnik betrachtet. Doch pakistanische Experten beschworen wieder das Feindbild des bösen Indien. Einige Mitglieder der NSG schalteten auf stur und bemängelten, dass eine Mitgliedschaft Indiens die Glaubwürdigkeit des Atomwaffensperrvertrages untergraben würde. Die Gruppe beschloss, die Debatte zu vertagen. Die Diskussion über die Verbreitung von Kernwaffen in Südasien bleibt anfällig für unausgewogene Analysen, Polemiken und Untergangsszenarien. Diese kurzsichtige Haltung findet sich auch in Islamabad und Neu-Delhi.

Pakistan und China machten Indien für das sogenannte atomare Wettrüsten in Asien verantwortlich. China bezog öffentlich keine Stellung, da Peking weder Indien noch Pakistan als Kernwaffenstaat anerkennt. Das Internetportal „China Topix“ jedoch zitierte die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, selbst ein „begrenzter Krieg“ zwischen Indien und Pakistan würde bedeuten, dass „zwei Milliarden Menschen infolge eines nuklearen Schlagabtausches unter Einsatz von 100 Kernwaffen verhungern“. Zur Erinnerung: Beide Länder nennen zusammen etwa 230 Sprengköpfe ihr Eigen – weniger als China und nichts im Vergleich zu den weltweit insgesamt 17.000 atomaren Sprengköpfen.

Dennoch: Indiens und Pakistans politischen Systeme sind komplex, sie haben häufig gegeneinander Krieg geführt und ihre militärischen Oberbefehlshaber handeln oft unglücklich und auf der Grundlage nebulöser Doktrinen. Das macht die Lage im atomaren Dreieck im südlichen Asien spannungsreich und vielschichtig, so dass Analysten nicht selten in Panik verfallen.###Seite2###

Der Atomdeal zwischen Indien und den USA im Oktober 2008 hat die Vorzeichen in der nuklearen Gleichung im südlichen Asien umgekehrt. Die USA haben nicht nur den Weg bereitet, dass Indien im globalen Atomgeschäft mitspielen darf. Sie haben das Land als „verantwortlichen Staat“ gewürdigt, den es zu kooptieren und zu belohnen gilt. Gewiss hat die Anziehungskraft eines potenziell 200 Milliarden US-Dollar schweren Marktes für Nukleartechnologie in Indien zu diesem politischen Umschwung beigetragen.

Seitdem versucht China, für Pakistan ähnliche Vergünstigungen durchzusetzen. Dem haben sich Vertreter der USA und anderer Industrieländer wiederholt widersetzt. Denn in Pakistan existieren eine Vielzahl an Machtzentren sowie Brutstätten des Terrorismus. Die Bilanz bei der Nichtverbreitung von Kernwaffen ist bescheiden; die Erinnerung an das Netzwerk von Abdul Kadir Khan, das Atomtechnik weitergegeben hat – unter anderem nach Nordkorea –, ist noch frisch.

Diese Umstände haben Indien geholfen, eine de-facto-Anerkennung als Kernwaffenstaat zu erreichen. Im Gegenzug hat Indien sein Atomprogramm in einen zivilen und einen militärischen Teil unterteilt und alle zivilen Anlagen den Kontrollen und Sicherheitsvorkehrungen des Nichtverbreitungs-Regimes unterstellt. Dazu zählen etwa regelmäßige Inspektionen durch die IAEO.

Darüber hinaus hat Neu-Delhi viele Zusagen gemacht; so will man ein Atomtestmoratorium einhalten, auf den Ersteinsatz von Kernwaffen verzichten und lediglich eine minimale Abschreckung aufrechterhalten.
Im Gegenzug sind dank des Atomdeals mit den USA und des Zugeständnisses der NSG die von Indien als militärisch deklarierten Atomanlagen und der gelagerte Kernwaffenbrennstoff von IAEO-Inspektionen befreit. Indien steht es frei, zusätzliche Anlagen zur militärischen Nutzung aufzubauen und dazu Material einzusetzen,  das nicht unter den Verifikationsmechanismus fällt.

Trotz dieses Entgegenkommens sind auch manche Kommentare aus Indien deplatziert und rückwärtsgewandt. Brig Gurmeet Kanwal, ein früherer Leiter einer Denkfabrik der Armee, schrieb in der indischen Tageszeitung „The Tribune“, die enge Beziehung zwischen China und Pakistan bei der Kernkraft und beim Raketenprogramm habe das strategische Gleichgewicht im südlichen Asien nachhaltig gestört. Indiens Überlegenheit bei den konventionellen Waffen sei neutralisiert worden. Das habe Pakistan ermuntert, unter seinem nuklearen Schutzschirm einen Stellvertreterkrieg zu entfachen. Das ist kalter Kaffee, war schon bisher nicht hilfreich und verletzt zunehmend den Stolz der Pakistaner.

Abschreckung und Dialog

Es ist wichtig zu verstehen, dass chinesische Spitzenpolitiker keine direkten Atomverhandlungen mit Indien führen können. Die Regierungen in Indien und Pakistan werden ihre Kernwaffen nur aufgeben, wenn das Teil eines globalen Verzichtes ist. Alle drei Länder fühlen sich von außen gedrängt, den Glauben an die nukleare Abschreckung hochzuhalten – und das, obwohl sie sich zu Atomtestmoratorien und einer Minimalabschreckung bekennen, was dieses nukleare Dreieck so einzigartig und stabil macht.

Es geht ihnen darum, die Stabilität der Abschreckung zu sichern. Zugleich soll mit Hilfe eines Dialoges die Sicherheit von Atomanlagen verbessert werden. Kernwaffen sind fester Bestandteil ihrer Wahrnehmung des regionalen Kräfteverhältnisses und der Bedrohungslage. Die Atomwaffen haben schon jetzt die Grenzen eingefroren, um die sich Kriege in der Vergangenheit meist drehten: Es ist unwahrscheinlich, dass es zu einem größeren Krieg kommen wird, um Grenzen neu zu ziehen. Aber die zwischenstaatlichen Spannungen werden sich weiter auf unkonventionellen Wegen entladen, etwa durch Attacken im Cyberspace oder indem nationale Entwicklungsprojekte unterminiert werden und das internationale Ansehen des jeweils anderen Staates geschwächt wird.###Seite3###

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Die Atomrüstung in Südasien ist eng verbunden mit Konflikten zwischen Indien, Pakistan und China – insbesondere um die Kontrolle über Kaschmir (siehe Karte). Schon unmittelbar nach ihrer ...

Pakistanische Experten glauben, dass Indien von der Doktrin der Abschreckung zu einer Doktrin des Zwangs übergegangen ist. Es will Pakistan nicht mehr mit der Androhung eines untragbaren Schadens von Handlungen abschrecken, sondern mit Drohungen erreichen, dass das Nachbarland sich gemäß indischen Wünschen verhält. Als Beleg werden Indiens Bemühungen zum Erwerb von Raketenabwehrsystemen, die Investitionen in Satellitensysteme, der Bau von Atom-U-Booten und auch das geringe Interesse an Kriegsführungsstrategien genannt.

In Ermangelung eines Dialogs hat Pakistan mit der Entwicklung von Nasr reagiert, einer neuen taktischen Kernwaffe mit kurzer Reichweite. Sie soll gegen indische Streitkräfte eingesetzt werden, die auf pakistanisches Gebiet vordringen (die indische Armee ist der pakistanischen konventionell überlegen; Anm. d. Red.). Das macht es sehr viel wahrscheinlicher, dass Kernwaffen eingesetzt werden. Ergänzend dazu gibt es ein breites Spektrum an Abschreckungsoptionen, von denen der Terrorismus als besonders wirksam angesehen wird. Dass Pakistan den Terrorismus als Methode einsetzt, lässt sich zurückverfolgen bis zur Aufwiegelung der islamischen Widerstandskämpfer, der Mudschaheddin, gegen die Sowjetunion in den 1980er Jahren.

Das Instrument erwies sich als attraktiv, weil ab den 1990er Jahren die Verbreitung von Kernwaffen im südlichen Asien größere Kriege unmöglich machte und die Gewalt zwischen den Staaten sich auf Konflikte mit geringerer Intensität verlagerte. Der wiederholte Einsatz von Terrorismus birgt jedoch das Risiko, das Abschreckungsgleichgewicht auszuhöhlen und die Staaten in einen Atomkrieg taumeln zu lassen.

Kernwaffen stellen aber nicht nur im Krieg ein Problem dar. Ebenso wichtig ist ein sicherer Umgang mit ihnen im Frieden. Falsche Informationen, Fehlwahrnehmungen oder Missmanagement können einen versehentlichen Abschuss oder eine Sabotage verursachen. Auch nichtstaatliche Akteure könnten sich Zugang zu Informationen und Anlagen verschaffen. Dieser Alptraum des Nuklearterrorismus macht das südliche Asien zu einem wahren Pulverfass. Angesichts der regelmäßigen Angriffe von Mudschaheddin auf Einrichtungen der pakistanischen Armee steht zu befürchten, dass irgendwann einige der Atomsprengköpfe in die Hände von Dschihadisten fallen könnten. Der Rückzug der NATO und der US-amerikanischen Truppen aus Afghanistan sowie die Bürgerkriege im Nahen Osten haben diese Sorge verstärkt.###Seite4###

Experten warnen bereits davor, dass die Möglichkeit von Nuklearterrorismus wachse, weil Kernkraftwerke und Forschungsreaktoren anfällig für Sabotage sind und waffentaugliches Material leicht entwendet werden kann. Als im Juni Terroristen den Flughafen in Karatschi angriffen und zwei Armeeoffiziere töteten, hat die pakistanische Regierung sofort die Sicherheitsvorkehrungen für Atomanlagen erhöht.

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Der Terrorangriff zeigte, dass es dem pakistanischen Nachrichtendienst nicht gelungen war, Informationen rechtzeitig weiterzugeben.  Er belegte auch die militärischen Fähigkeiten der islamistischen Kämpfer. Ebenso beunruhigend sind zunehmende Cyber-Attacken – vor allem für den Fall eines Krisenmanagements zwischen atomar bewaffneten Staaten. Nach dem Vorbild Chinas haben Indien und Pakistan hier starke Kapazitäten aufgebaut: Es gibt zahlreiche Beweise für virtuelle Angriffe auf sensible Computernetzwerke. In allen drei Staaten hängen die Kontrolle der Kernwaffen ebenso wie das tägliche Leben zunehmend von Informations- und Kommunikationsnetzen ab.

Zugleich sind Indien und Pakistan gegnerische Atommächte, die schon lange, bevor sie sich offiziell zum Atomstaat erklärten, Schritte zur Verringerung der mit Atomwaffen verbundenen Risiken ergriffen haben. Sie haben sich in einem Abkommen verpflichtet, ihre Atomanlagen nicht anzugreifen, und tauschen jedes Jahr am 1. Januar eine Liste dieser Anlagen aus – das halten sie auch ein, wenn ihre Beziehungen auf einem Tiefpunkt sind. Auch über Raketentests informieren sich die Regierungen in Neu Delhi und Islamabad vorher gegenseitig.

China und Pakistan nehmen sich außerdem ein Beispiel am Umgang anderer Staaten mit Indien und führen mit Neu-Delhi informelle sogenannte „Track- II“-Verhandlungen über kerntechnische Fragen. An den regelmäßigen Gesprächen nehmen pensionierte Beamte, Militärangehörige und Wissenschaftler teil. Sie sind stark fokussiert und beeinflussen nationale politische Entscheidungen. Es fanden sogar schon trilaterale Gespräche zwischen China, Indien und Pakistan über Nuklearfragen statt.  Auf diese Weise kann es gelingen, die mit Atomwaffen verbundenen Risiken in Asien zu verringern.

Die Gefahr des Nuklearterrorismus ist heute der schlimmste Alptraum im südlichen Asien. Es gibt dafür keine schnelle Lösung, weil sich alle einschlägigen Normen und Regime an Regierungen wenden und Terroristen oft als außerhalb staatlicher Kontrolle gelten. Dies macht das atomare Dreieck im südlichen Asien so überaus gefährlich.

Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2014: Atomwaffen: Abrüstung nicht in Sicht
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