Das ­Märchen von der ­iranischen Bombe

Der Iran will die Welt zum Narren halten und heimlich Atomwaffen bauen – so lautet die offizielle Lesart. Die Fakten sprechen eine andere Sprache.

Den vermeintlichen Beweis für das geheime Atomwaffenprogramm des Iran zwischen 2001 und 2003 lieferten mehrere Dokumente, die 2004 auftauchten. Angeblich stammten sie vom Laptop eines iranischen Wissenschaftlers, der an dem Programm gearbeitet haben soll. Sie enthalten Zeichnungen, die zeigen, wie eine Atomwaffe in der iranischen Shahab-3-Rakete eingebaut werden könnte. 2005 wurden Beschreibungen dieser Skizzen an ausgewählte Journalisten weitergegeben. Die Medien verbreiteten die sensationelle Nachricht, der unwiderlegbare Beweis für das iranische Streben nach Atomwaffen liege nun auf dem Tisch.

Autor

Gareth Porter

ist Journalist und Buchautor für sicherheitspolitische Themen. Kürzlich ist sein Buch „Manufactured Crisis: The Untold Story of the Iran Nuclear Scare” (Just World Books) erschienen.

Auch die amerikanischen Geheimdienstdossiers von 2005 und 2007 über das Atomwaffenprogramm beruhten zum großen Teil auf der Annahme, dass diese Unterlagen echt seien. Und die internationale Atomenergiebehörde IAEO erklärte sie 2008 für glaubwürdig, obwohl der damalige Generaldirektor Mohammed el-Baradei zu bedenken gab, dass ihre Echtheit nicht nachgewiesen sei.

Ein gravierender Fehler in den Zeichnungen beweist jedoch, dass es sich um eine Fälschung handelt: Die abgebildete Rakete war schon vor 2000 – zwei Jahre, bevor die Zeichnungen angefertigt wurden – durch ein verbessertes Modell ersetzt worden, das ganz anders aussah.

Im vorigen Jahr erklärte mir Karsten Voigt, der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Koordinator des Auswärtigen Amtes für die Beziehungen zu den USA, was es mit diesen Dokumenten in Wirklichkeit auf sich hat: Der deutsche Bundesnachrichtendienst bekam sie von einem Mitglied der Volksmudschaheddin, einer fanatischen Terrororganisation, die das Regime in Teheran schon seit den frühen 1980er Jahren bekämpft. Auch hatte Voigt von einem hochgestellten BND-Vertreter erfahren, dass dessen Mitarbeiter die Quelle für fragwürdig hielten. Es erfüllte die Geheimdienstler mit Sorge, dass Washington gewillt schien, diese Unterlagen zur Basis seiner Iran-Politik zu machen.

Der Iran wollte bei der zivilen Nutzung unabhängig bleiben

Die amerikanische Doktrin, dass der Iran insgeheim den Besitz von Atomwaffen anstrebt, lässt eine wichtige Tatsache außer Acht: Die aggressive Haltung der USA gegenüber dem iranischen Kernforschungsprogramm beeinflusst maßgeblich die Atompolitik des Landes. Um den Iran zum Verzicht auf sein Atomprogramm zu zwingen, begann die Regierung von Präsident Ronald Reagan nach der Revolution gegen den Schah 1979, starken Druck auszuüben. Die neue iranische Regierung wollte das unter dem Schah-Regime entwickelte Atomprogramm zunächst zurückfahren; sie besaß nur einen einzigen Atomreaktor in Buschehr und hatte nicht vor, dafür selbst Uran anzureichern. Das sollte die französische Firma Eurodif übernehmen, an der der Iran mit zehn Prozent beteiligt war.

Doch nachdem der Irak 1981 im Iran eingefallen war und der Iran einen erfolgreichen Gegenangriff gestartet hatte, wurde die Reagan-Regierung aktiv, um die atomare Zusammenarbeit zwischen dem Iran und Frankreich und Deutschland zu unterbinden. Die beiden europäischen Verbündeten akzeptierten das. Die iranische Regierung hatte nun zwei Möglichkeiten: dem amerikanischen Druck nachzugeben und ihr Kernenergieprogramm einzustellen oder eigene Anreicherungsmöglichkeiten zu entwickeln. Sie entschied sich für die Anreicherung. Deshalb widersetzt sie sich nun seit fast drei Jahrzehnten der ablehnenden Politik der USA. Washington wiederum folgert daraus, dass der Iran in den Besitz von Atomwaffen kommen wolle.

Hinzu kommt, dass der Iran die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) Ende der 1990er Jahre nicht über seine Versuche zur Anreicherung von Uran und über die Anlage in Natanz informiert hat. Auch das gilt seit langem als Beweis für ein Kernwaffenprogramm. Dabei wird aber übersehen, dass die Arbeit dort gar nicht gegen das Abkommen mit der IAEO verstieß. Hätte der Iran tatsächlich vorgehabt, heimlich sein Urananreicherungsprogramm für Atomwaffen zu nutzen, dann hätte die iranische Regierung über die erlaubten Teile berichtet, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.###Seite2###

Die Geheimhaltung hatte einen anderen Grund: Hätte die iranische Regierung die IAEO über ihre Kernforschung informiert, dann hätte sie die Zusammenarbeit mit China aufs Spiel gesetzt, das seit Mitte der 1980er Jahre der wichtigste Partner des Iran auf diesem Gebiet geworden war. Die Volksrepublik hatte dem Iran 1991 fast zwei Tonnen Uran verkauft, wollte jedoch nicht, dass die IAEO davon erfuhr. Denn die Chinesen wurden von den Amerikanern unter Druck gesetzt, das iranische Atomprogramm nicht zu unterstützen.

Der größte Teil des chinesischen Urans wurde von 1995 bis 2000 bei Versuchen eingesetzt, Uran mit Hilfe des Laserverfahrens anzureichern. Doch 1999 und 2002 wurde ein Teil davon benutzt, um die Anreicherung in Gaszentrifugen zu testen. Hätte die iranische Regierung die IAEO über dieses an sich völlig legitime Vorgehen in Kenntnis gesetzt, dann wäre auch publik geworden, dass China insgeheim Uran an den Iran verkauft hatte.

Ein Ende des Atomstreits?

Am 24. November läuft die nächste Frist zur Lösung des Nuklearkonflikts mit dem Iran ab. Dann soll der jahrelange Streit mit einem umfassenden Abkommen beigelegt werden. Der Iran müsse ...

Erst im August 2002 informierte das iranische Exilparlament Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) die Öffentlichkeit über die Anlage in Natanz. Auch dies wertete die US-Regierung unter George W. Bush als Beweis für ein geheimes Waffenprogramm, denn andernfalls – so wurde argumentiert – hätte es keinen Grund gegeben, über eine derartige Einrichtung Stillschweigen zu bewahren.

Doch bleiben mehrere Fragen offen. Warum hätte für die Anreicherung von waffentauglichem Uran eine so riesige Anlage gebaut werden müssen, in der mehr als 50.000 Zentrifugen untergebracht werden können – ein Vielfaches dessen, was für kriegerische Zwecke erforderlich gewesen wäre? Und warum wurde sie so dicht neben der Hauptverkehrsstraße in der Nähe von Isfahan gebaut, wo sie keinesfalls unbemerkt bleiben konnte? Die Annahme, der Iran wollte heimlich waffenfähiges Uran anreichern, setzt außerdem voraus, die Verantwortlichen im Iran hätten nichts davon geahnt, dass amerikanische Satelliten jede für atomare Zwecke geeignete Baustelle überwachten. Medienberichte über die amerikanische Satellitenüberwachung des iranischen Atomprogramms gab es jedoch schon Jahre zuvor.

Dem Abkommen mit der IAEO zufolge musste der Iran erst sechs Monate vor der Einlieferung von atomarem Material über seine Anreicherungsanlage berichten. Doch es gab auch zwei ganz praktische Gründe, weshalb die Iraner die IAEO vor Baubeginn in Natanz nicht informierten. Beide haben mit den Amerikanern zu tun, die den Iran zwingen wollten, ganz auf die Entwicklung von Atomenergie zu verzichten: Erstens verfügte Iran noch nicht über alle Materialien, die für die Anlage notwendig waren. Bis 2001 etwa fehlten Tausende von stählernen Kugellagern für die Installation der Gaszentrifugen in Natanz. Hätte der Iran der IAEO von Anfang an über das Bauvorhaben in Natanz Auskunft gegeben, dann hätten die westlichen Geheimdienste bessere Chancen gehabt, die Lieferung der wichtigen Teile zu verhindern.

Zweitens waren die Iraner davon überzeugt, dass die USA und Israel nichts unversucht lassen würden, um die Fertigstellung der Anlage zu verhindern, gegebenenfalls mit Gewalt. Seit Ende 1997 drohte Israel indirekt mit Angriffen auf den Iran, sollte Teheran das Atomprogramm nicht einstellen.###Seite3###

Als im September 2009 die Existenz einer weiteren Anreicherungsanlage in Fordo in der Nähe der Stadt Ghom bekannt wurde, entrüstete sich die US-Regierung einmal mehr über die arglistigen Iraner. „Sie haben uns drei Mal hintergangen“, erklärte ein hochgestellter Beamter gegenüber der „New York Times“ und fügte triumphierend hinzu: „Und sie sind drei Mal erwischt worden.“

Der Iran hatte die IAEO in einem Brief vom 21. September 2009 über die Anlage informiert, vier Tage vor den öffentlichen Vorwürfen der USA. Doch die Regierung von Präsident Barack Obama behauptete – mit den Worten eines hohen Regierungsbeamten, der die Medien darüber unterrichtete –, die Iraner hätten die IAEO nur deshalb informiert, weil sie „erfahren hatten, dass die Geheimhaltung der Anlage gefährdet war“. Diese Behauptung wurde in vielen Berichten wiederholt und entwickelte sich zu einem festen Bestandteil der Doktrin vom heimlichen Streben der Iraner nach einer Atomwaffe.

Doch am Tag der Presseverlautbarung wurde im amerikanischen Außenministerium noch ein anderer Text in Frage-und-Antwort-Form verfasst, um die Anreicherungsanlage bei Ghom öffentlich bekannt zu machen. Darin wurde deutlich: Anders als behauptet konnte Washington nicht beweisen, dass der Iran deshalb über seine Anlage informiert hatte, weil sie nicht mehr geheim war. Dort heißt es: „Frage: Warum entschieden sich die Iraner dafür, die Anlage zum jetzigen Zeitpunkt bekannt zu geben? Antwort: Das wissen wir nicht.“

Den amerikanischen Geheimdienstbeamten war die Anlage schon seit Monaten bekannt, doch sie waren sich nicht sicher, ob sie der Urananreicherung dienen sollte. Der hohe Beamte, der am 25. September 2009 die Presse informierte, gab zu: „Solange der Bau einer solchen Anlage noch in den Anfängen steckt, kommen viele Zwecke in Frage, für die sie genutzt werden könnte.“

Dass die Iraner der IAEO über Fordo berichteten, geschah wohl in der Absicht, die besonders exponierte Anreicherungsanlage in Natanz vor einem Angriff durch Israel oder die USA zu schützen. Der Brief an die IAEO wurde geschrieben, eine Woche nachdem der Iran Gesprächen über sein Atomprogramm im UN-Sicherheitsrat zugestimmt hatte. Außerdem hatte Ali Akbar Salehi, der Leiter der Iranischen Atomenergieorganisation, vor einem Präventivschlag gegen iranische Kernforschungseinrichtungen gewarnt.

Angesichts der Baugeschichte des Tunnelsystems in Fordo kann man sich kaum vorstellen, dass man im Iran nicht von der Überwachung durch die amerikanischen Geheimdienste wusste. Schon vor Baubeginn hatte der Nationale Widerstandsrat des Iran im Dezember 2005 erklärt, dass die unterirdische Anlage für das iranische Atomprogramm genutzt werden sollte. Und dem französischen Sicherheitsexperten Roland Jacquard zufolge verlegten die Iraner im Jahr 2006 eine Flugabwehreinheit an den Berg, in den die Tunnel gegraben wurden – eine überraschende Maßnahme, falls Iran die Einrichtung wirklich absolut geheim halten wollte.

Gemäß einer ergänzenden Vereinbarung mit der IAEO musste der Iran jede neu geplante Atomanlage umgehend melden. Hätten die Iraner die Einrichtung in Fordo wirklich für ein geheimes Programm der waffenfähigen Urananreicherung nutzen wollen, dann hätten sie zum Zeitpunkt, als der Bau beschlossen wurde, gewiss geschwiegen und so getan, als wären keine weiteren Anlagen geplant. Doch stattdessen teilte der Iran der IAEO im März 2007 mit, dass es die ergänzende Vereinbarung nicht mehr einhalten wolle. Offenbar wollte die Regierung in Teheran die USA und Israel glauben machen, sie verfüge möglicherweise noch über mehrere derartige Einrichtungen.

Die Darstellung, dass der Iran die Welt hinters Licht führen will, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Trotzdem halten die westlichen Politiker und Medien fast geschlossen an dieser offiziellen Meinung fest. Dass sie an einer genauen Analyse der Fakten nicht interessiert sind, birgt ein enormes Risiko für eine vernünftige Politik des Westens gegenüber dem Iran.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2014: Atomwaffen: Abrüstung nicht in Sicht
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