Haare, die die Welt bedeuten

Früher wurden die Rastafaris auf Jamaika verspottet, heute wehren sie sich gegen den Ausverkauf ihrer Kultur. Unter den Rastalocken steckt mehr als ein Geschäftsmodell. Es geht um gelebte Systemkritik.

Die Rastafari-Bewegung ist seit Jahrzehnten von einer mystischen Faszination umgeben. Ihre unerwartete Entstehung in den Armenvierteln von Kingston ist Teil davon. Mit dem zunehmenden Interesse an einer natürlichen Lebensweise hat die Bewegung selbst für ihre Kritiker erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Bemühungen der jamaikanischen Regierung und anderer Religionsgemeinschaften, die Rastafari-Bewegung auf den Westindischen Inseln zu unterdrücken, waren weitgehend erfolglos. All jene, die sie als flüchtige Modeerscheinung abtaten, warten noch immer auf ihren Untergang.

Im Gegenteil: Die Bewegung ist seit den 1970er Jahren stark gewachsen. Das liegt einerseits an den Lehren ihrer Wegbereiter wie Marcus Garvey, der für die Befreiung der schwarzen Bevölkerung eintrat, und andererseits an ihren Protagonisten wie dem legendären Reggae-Musiker Bob Marley. In jüngerer Zeit sind zur langen Liste ihrer Anhänger Pädagogen, Parlamentarier, Wissenschaftler und internationale Schönheitsköniginnen hinzugekommen. Sie haben dem Rastafari-Kult ein anderes Gesicht gegeben.

Die Rastas sehen die Bewegung heute als eine Lebensweise, die sich auf ein natürliches Leben konzentriert statt auf politische Ziele. „Es ist die Art und Weise, wie man lebt, und es sind die Dinge, die man Tag für Tag tut“, sagt Tsehai Scott. Dazu gehöre, in Harmonie mit den Menschen und der Natur zu leben und eine Verbindung zum „Allerhöchsten“ aufzubauen. „Das ist für unser Wachstum und unsere spirituelle Entwicklung wichtig, die sich auf unsere ganze Existenz auswirkt.“

Scott wurde in eine Rasta-Familie in Jamaika geboren. Der Lebensstil ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen, obwohl sie mit zehn Jahren zu ihrer Großmutter zog und dort eine andere Lebensweise kennenlernte. „Später beschloss ich dann, zum Rastafarianismus zurückzukehren“, erklärt sie. Heute prägt die Kultur jeden Aspekt ihres Familienlebens, obwohl drei der acht Kinder, die sie und ihr Ehemann zusammen haben, keine Rastas sind. „Sie haben sich zwar dagegen entschieden, Locken zu tragen. Aber durch unseren Lebensstil haben sie ein Fundament für die grundlegenden Gesetze des Lebens bekommen“, sagt sie.

Scott betreibt zusammen mit anderen ein erfolgreiches vegetarisches – oder „ital“ – Restaurant. Die Speisen der Rastafari werden „Ital Food“ genannt, weil sie frei von Chemikalien und Konservierungsstoffen sind, nicht aus Dosen kommen und meistens roh verzehrt werden. Scott ernährt sich nicht nur natürlich, sondern benutzt auch kein Make-up, isst kein Fleisch und trägt Dreadlocks. Andere Rastas seien viel radikaler und weigerten sich, irgendetwas zu benutzen, was behandelt oder industriell verarbeitet sei, zum Beispiel Deodorants, sagt sie.

Autorin

Nadine Wilson

ist Redakteurin des „Jamaica Observer“ in Kingston.
Der Kampf um die Anerkennung der Rasta-Bewegung in der jamaikanischen Gesellschaft war hart. Früher brachte man die Bewegung häufig in Verbindung mit radikalen Protestierenden, die Marihuana rauchten und schmutzige, verfilzte Locken hatten. Ihre Anhänger fanden oft keine Arbeit, die Kinder mussten ihre langen Haare abschneiden, um von Schulen aufgenommen zu werden, und viele Rastas wurden verhaftet, weil sie Ganja (Cannabis) rauchten.

Noch heute werden Rastas oft verspottet, wenn sie von Repatriierung sprechen: Gemeint ist die Rückführung nach Äthiopien, ins Gelobte Land. Maxine Stowe vom Rastafari Millennium Council, dem Dachverband der Rastafari-Gemeinschaft, erklärt: „Die politische und die spirituelle Philosophie gründen auf der Wiederherstellung der afrikanischen Identität, die vom transatlantischen Sklavenhandel zerstört wurde.“ Das Recht auf die Rückkehr nach Afrika sei in Jamaikas Emanzipationsgesetz von 1938 verankert worden. „Freiheit ist das Recht, in die Heimat zurückzukehren.“

Entstanden ist die Rastafari-Bewegung in den 1930er Jahren in Ostafrika, als Ras Tafari zum Kaiser Haile Selassie I. von Äthiopien gekrönt wurde. Die Anhänger verehren seine Kaiserliche Hoheit als die Wiedergeburt des Messias und nennen sich deshalb „Rasta“ oder „Rastafari“. Sie lehnen die westliche Kultur ab, sie halten das Gesellschaftssystem für korrupt und bezeichnen es als „Babylon“ – in Anlehnung an die antike Stadt, die in der Bibel als ein Ort des Exils und der Versklavung beschrieben wird.

Über die Kultur, zum Beispiel die Reggae-Musik, habe sich die Rastafari-Bewegung weltweit verbreitet, nach Afrika, Brasilien, Japan und Europa, erklärt Stowe: „Die Anhänger der afrozentrischen Lehre finden sich in Jamaika, der Karibik und anderen Ländern mit einer afrikanischen Diaspora.“ In Europa, Asien und anderen Kulturen wie Neuseeland und Australien stünden dagegen die äußeren Aspekte der Lehre, der natürliche Lebensstil, im Vordergrund.

Schätzungen zufolge hat die Rastafari-Bewegung heute weltweit eine Million Anhänger, in Jamaika sind es rund 30.0000. Viele Rastas gehören keiner festen religiösen Gruppe an, für sie sind ihre Körper die Tempel ihrer Religion. Glauben und göttliche Inspiration suchen sie in sich selbst. In Jamaika sind einige Rastafari in Gemeinden oder strenggläubigen Sekten wie den Twelve Tribes of Israel, den Nyahbinghi und den Bobo Shanti organisiert.###Seite2###

Die Tatsache, dass der einst verspottete Lebensstil heute weltweit von medizinischen Fachleuten unterstützt wird, ist Scott wohl bewusst. Den Rastas bieten sich dadurch neue Chancen, ihren Lebensunterhalt als Kräuterspezialisten oder Heilkundige zu bestreiten. Sie versorgen ihre Kunden mit natürlichen Produkten, die die industriell verarbeiteten Erzeugnisse aus den Regalen der Supermärkte ersetzen.

Ein weiterer Brauch, der im vergangenen Jahrzehnt an Anziehungskraft gewonnen hat, ist das Tragen von Dreadlocks. Die langen seilähnlichen Zöpfe sind eines der wichtigsten Merkmale der Rastas in aller Welt. Sie sind ebenfalls ein Symbol für den Protest gegen den kulturellen Imperialismus. Eine ähnliche Haarmode findet sich bei den Mau Mau in Kenia und unter hinduistischen Asketen in Indien, wo auch das heilige Sakrament des Cannabis-Konsums seinen Ursprung hat.

Eine Insel der Homophobie 

Homo- und transsexuelle Menschen haben in Jamaika einen schweren Stand. Immer wieder kommt es zu Übergriffen auf sie, Menschenrechtler beklagen Diskriminierungen und sexuelle Gewalt. Laut ...

Inzwischen sind die Rastalocken sogar bis in die Kirchen auf Jamaika vorgedrungen, die wegen der göttlichen Verehrung von Haile Selassie zu den entschiedensten Gegnern der Rastafari zählen. Ohne Frage hat dieser Trend eine Kontroverse in dem als überwiegend christlich geltenden Land ausgelöst. Sherell Charles, die in Kingston in einer evangelikalen Gemeinde mit 3000 Mitgliedern einen Jugendchor leitet, erregte den Zorn etlicher Christen, als sie sich dazu entschloss, Dreadlocks zu tragen. „Ich hatte schon als Kind Angst davor, mich zu kämmen, und bei dieser Frisur muss ich nicht so oft zum Friseur gehen“, sagt sie: „Aber die Leute dachten, ich würde abtrünnig werden.“

Inzwischen hätten sich die meisten an ihre Dreadlocks gewöhnt und einige sogar begonnen, ihr Haar auf die gleiche Weise zu tragen. Tatsächlich gibt es an der Spitze bekannter Gemeinden auf der Insel, die die Rastafari-Ideologie strikt ablehnen, mehrere Pastorinnen und Pastoren mit Dreadlocks. Viele vertreten die Ansicht, es sei eine modische Aussage und bedeute keineswegs die vollständige Akzeptanz der Kultur.

Mit dem internationalen Ruhm Bob Marleys und anderer Musiker ist der Rastafarianismus unabsichtlich zu einem zentralen Element im Marketing von Jamaika als einem Ort für Entspannung und Spaß geworden. Die überaus große Anziehungskraft, die Rasta-Männer auf Besucherinnen ausüben, führte zu der Geschäftsidee „Rent a Dread“. Kahl geschorene Männer ließen ihr Haar wachsen, um Frauen anzulocken, die bereit sind, viel Geld auszugeben, um mit ihnen zusammen zu sein.

Obwohl die Bevölkerung einige Praktiken der Rastafari übernommen hat, muss die Gruppe weiter gegen Vorurteile kämpfen, die ihren Lebensstil einschränken. Das betrifft vor allem das Rauchen von Cannabis, das seit 1913 strafbar ist. Für die Rastas dagegen ist „Ganja“ ein heiliges Kraut, dessen Konsum den Geist befreit, Nachdenken und Argumentieren bei den gemeinsamen Treffen ermöglicht. Weil sie im Besitz von Cannabis waren, wurden im Lauf der Jahre Hunderte von Rastafaris verhaftet.

Der Konsum von Cannabis soll straffrei sein

Doch inzwischen scheint die Politik den Forderungen nach der Entkriminalisierung von Marihuana nachzukommen. Die Regierung Jamaikas hat kürzlich angekündigt, den Konsum von Cannabis straffrei zu stellen. Zu der Entscheidung kam es jedoch erst, nachdem einflussreiche Wissenschaftler und Mediziner darauf hingewiesen hatten, dass die Pflanze für medizinische Zwecke genutzt und damit die angeschlagene Wirtschaft des Landes angekurbelt werden kann. Zwar befürworten die Rastas die Legalisierung, doch einige sehen darin einen weiteren wirtschaftlichen Zwang „Babylons“.

Cannabis dürfe nicht allein zum wirtschaftlichen Konsumgut werden, die Riten der Rastafari müssten berücksichtigt werden, erklärt Stowe. Sie verweist auf andere Fälle, in denen die Regierung aus wirtschaftlichen Gründen den Rastafarianismus akzeptiert hat. Die Rastafari-Bewegung kämpfe heute damit, sich ausdrücklich von der „Marke Jamaika“ abzugrenzen, obwohl sie diese Marke maßgeblich mitbeeinflusst hat. „Die Werte der Rastafari-Gemeinschaft wurden von der Gesellschaft nicht übernommen“, sagt Stowe.

Ein weiteres Beispiel: Jamaika hat wegen der zunehmenden Bedeutung des Süd-Süd-Handels kürzlich einen Botschafter für die Afrikanische Union entsandt – die Rastafari-Gemeinschaft hatte das seit dem Besuch Haile Selassies 1966 in Jamaika gefordert. Der Botschafter engagiere sich jedoch nicht für die Rastas und ihre Anliegen, sagt Stowe. Er setze sich für die wirtschaftliche Elite von Jamaika ein, die ihre Produkte und Dienstleistungen in Afrika verbreiten wolle. Eine große Enttäuschung für die Rastafari-Bewegung. Denn obwohl sie heute mehr denn je akzeptiert sind und längst nicht mehr so stark diskriminiert werden wie in der Vergangenheit, hoffen die Anhänger dieser Lehre immer noch auf eines: Die Rückführung nach Afrika, dem Pendant zum christlichen Himmel.

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
 

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erschienen in Ausgabe 8 / 2014: Gesichter der Karibik
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