Unsere Somalis, fremde Somalis

In Kenia leben viele Menschen somalischer Herkunft. Viele fühlen sich als Kenianer, zugleich aber auch ausgegrenzt im eigenen Land. Und auch zwischen den Somalis gibt es unsichtbare Barrieren.

Wenn die Bewohner der an Somalia angrenzenden kenianischen North Eastern Province eine andere Region des Landes besuchen, sagen viele von ihnen: „Wir fahren nach Kenia.“ Auch die Polizeisperren in der Provinzhauptstadt Garissa wirken wie ein Grenzübergang, der diesen Landesteil vom Rest Kenias trennt.

Autorin

Tabea Scharrer

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale. Sie forscht in der Abteilung „Integration und Konflikt“ zu somalischen Migranten in kenianischen Städten.
Dabei gehören die Provinz und ihre Bevölkerung von Beginn an zum Staat Kenia. Die meisten ihrer Bewohner rechnen sich zur ethnischen Gruppe der Somali. Was genau sie unter dieser Bezeichnung verstehen und welche Erfahrungen sie damit verbinden, hängt allerdings stark von ihrer Sozialisation ab.

Einwohner Somalias wiederum, die indes nicht alle ethnische Somalis sind, nennen die Bewohner der North Eastern Province leicht abschätzig „Somali sijui“: „Somali ich weiß nicht“. Für sie sind die kenianischen Somalis keine richtigen Somalis: Weder beherrschten sie die somalische Sprache hinreichend, noch seien sie kulturell als gleichwertig anzusehen.

Es gibt also keine eindeutige Antwort auf die Frage, wer als Somali bezeichnet werden kann, ob der Begriff eine ethnische oder staatsbürgerliche Zuordnung ist und ob diese auf einer Selbst- und Fremdzuschreibung beruht. Entsprechend vielgestaltig sind die Erfahrungen der somalischen Bevölkerung in Kenia.

In der Ethnologie wird die Grenze nicht nur als etwas Trennendes gesehen, sondern auch als Brücke, über die hinweg Interaktionen stattfinden. So zeigte der norwegische Ethnologe Fredrik Barth in seinem 1969 erschienenen Buch „Ethnic groups and boundaries“, dass die ethnischen Zuordnungen vor allem das Ergebnis gesellschaftlicher Organisation und Abgrenzung sind und dass diese Grenzen jedoch immer in Wandlung begriffen und nicht identisch mit kulturellen Grenzen sind.

Auch innerhalb der Gruppe der Somalis finden Grenzziehungen statt

Das gilt auch für die somalische Bevölkerung in Kenia. Selbstzuschreibung und Fremdzuschreibung, von außen gesetzte Grenzen und individuelle Grenz-erfahrungen stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Wo Einzelne ihren Platz innerhalb der Gesellschaft sehen, hängt mit den Möglichkeiten zusammen, die sich aus ihrer familiären und ihrer sozio-ökonomischen Lage ergeben und damit häufig auch von der Frage, welcher somalischen Abstammungslinie sie sich zurechnen.

Eine Rolle spielt außerdem, ob sie in der Stadt oder in ländlichen Gebieten, in Grenznähe oder eher im Zentrum Kenias aufgewachsen sind. Schließlich ändern sich die Selbstzuordnungen je nach innen- und außenpolitischer Situation. Das Ergebnis ist, dass auch innerhalb der scheinbar homogenen ethnischen Gruppe der Somalis Grenzziehungen stattfinden, die sich sogar in einzelnen Familien niederschlagen.###Seite2###

Der 42-jährige Abdi zum Beispiel ist zunächst in der Nähe der kenianischen Küstenstadt Mombasa und später in Nakuru im Zentrum des Landes aufgewachsen. Seine Eltern sind ethnische Somalis aus Tansania und Kenia; Abdi ist kenianischer Staatsbürger. Er lebt heute mit einer christlichen Kenianerin und ihrem gemeinsamen Kind zusammen, ohne mit ihr verheiratet zu sein. Seine Eltern haben seine Partnerin und deren Familie nie kennengelernt, obwohl sie in der selben Stadt leben: Die somalische Gesellschaft identifiziert sich stark über den Islam, und eine Christin zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen, ist eigentlich unmöglich.

Abdi führt schon seit seiner Jugend ein ausgeprägtes Doppelleben, mit dem er sowohl in der kenianischen Öffentlichkeit als auch in der somalischen Subkultur wirtschaftlich erfolgreich ist und Ansehen genießt. Zwei seiner Brüder hingegen sind als „somalische Flüchtlinge“ nach Europa ausgewandert, beide wollen nicht wieder nach Ostafrika zurück. Obwohl sie viel stärker nach somalischen Grundsätzen leben als ihr Bruder, zum Beispiel keinen Alkohol trinken und somalische Ehepartner haben, haben sie sich räumlich von der Gemeinschaft der kenianischen Somalis entfernt.

Abdi sah sich nie als Somali, sondern immer als Kenianer

Ein weiterer Bruder sowie Abdis Schwestern leben in verschiedenen Städten in Kenia. Der Zusammenhalt innerhalb der Familie ist eher schwach; Abdi sah sich als einziger nie vorrangig als Somali, sondern immer als Kenianer – nicht die ethnische, sondern die staatsbürgerschaftliche Identifizierung war für ihn maßgebend. Kenianer hingegen sehen das unter Umständen anders: Während der Unruhen nach den Wahlen 2007/2008 wurde er gezielt als Somali angegriffen.

Bereits in der Kolonialzeit unterschied die britische Verwaltung zwischen zwei Gruppen von Somalis in Kenia: denen, die als „Einheimische der Kolonie“ im Northern Frontier District lebten, und denen, die als Angestellte der britischen Armee und Verwaltung aus Somaliland nach Kenia eingewandert waren. Der Northern Frontier District, der die heutige North Eastern Province sowie weitere nomadisch geprägte Regionen im Norden Kenias umfasste, wurde früh als in sich geschlossenes, da gefährliches Gebiet behandelt und stand immer wieder unter Ausnahmezustand. Die Hauptursache hierfür war, dass die nomadische Lebensweise der dort lebenden Viehhirten im Widerspruch zur Logik des Territorialstaates stand.

Somalis kämpften darum, als Bürger zweiter Klasse angesehen zu werden

Die somalischen Bediensteten der Kolonie kämpften indes darum, in der kolonialen Hierarchie der Rassen als „second class citizens“, als Bürger zweiter Klasse anerkannt zu werden, gleichgestellt mit den Asiaten in Kenia und damit zwischen weißen Europäern und den Afrikanern. Viele von ihnen lebten in den Städten außerhalb des Northern Frontier District und wurden von der Kolonialverwaltung lange Zeit als Ausländer behandelt, obwohl sie schon sehr früh kaum noch Beziehungen zu Somaliland hatten.

Mit der Unabhängigkeit Kenias und Somalias machte sich unter den somalischen Bewohnern des Northern Frontier District die Hoffnung breit, sie könnten Teil des neuen somalischen Staates werden. Doch dazu kam es nicht. Als Folge formierte sich eine Sezessionsbewegung, die im so genannten „Shifta“-Krieg von 1963 bis 1967 für einen Anschluss an Somalia kämpfte („shifta“ ist Amharisch für „Räuber“); viele Gebiete in der North Eastern Province blieben auch nach dem Krieg im Ausnahmezustand.###Seite3###

Diese Auseinandersetzungen bestimmten das Leben vieler kenianischer Somalis. Zum einen hielten die Spannungen durch die 1970er Jahre hinweg an; erst ab Beginn der 1980er Jahre verbesserte sich die Lage etwas. Bis heute gehört die Region zu den ärmsten Gebieten Kenias mit kaum entwickelter Infrastruktur. Der Staat ist weitgehend abwesend, das Grenzgebiet entsprechend unsicher.

Zum anderen wurde der somalischen Bevölkerung die Loyalität zum kenianischen Staat abgesprochen – damit bekamen sie einen inoffiziellen Status, der mit dem Begriff „ambivalenter Staatsbürger“ bezeichnet werden könnte. Das macht es ihnen schwerer, als vollwertige Staatsbürger aufzutreten. Für die Bewohner der North Eastern Province ist es zum Beispiel nach wie vor schwieriger als für andere Kenianer, einen Ausweis zu erhalten: Sie müssen nicht nur die üblichen Unterlagen vorweisen, sondern auch einen Bürgen.

Ähnliches gilt für die in den Städten lebenden Somalis, deren Familien während der Kolonialzeit eingewandert waren. Zwar ist ihre finanzielle Situation meist deutlich besser, viele können der Mittelschicht zugeordnet werden. Von der Administration und Polizei werden sie jedoch ebenso benachteiligt.

Hunderttausende Flüchtlinge kamen nach Kenia

Diese Situation wurde noch komplizierter mit dem Beginn der 1990er Jahre, als Hunderttausende Flüchtlinge aus Somalia nach Kenia kamen. Die meisten von ihnen wurden in den zwei großen Flüchtlingslagern Kakuma nahe der sudanesischen Grenze und Dadaab in der North Eastern Province, nahe der Grenze zu Somalia, angesiedelt. Doch schätzungsweise mehr als 100.000 Flüchtlinge – offizielle Zahlen gibt es nicht – haben sich, zumeist illegal, in der North Eastern Province sowie in den größeren Städten Kenias niedergelassen, etwa in Nairobi, Mombasa, Nakuru oder Eldoret.

Zur gleichen Zeit wanderten auch viele kenianische Somalis aus dem Norden des Landes in die weiter südlich gelegenen Städte. Sie flohen vor den wirtschaftlichen Folgen des Krieges in Somalia, die auch in der benachbarten North Eastern Province spürbar waren, und wurden zugleich angezogen von den sozio-ökonomischen Möglichkeiten, die sich ihnen in den Städten boten.

Von den rund 10.000 Somalis in Nakuru, der viertgrößten Stadt Kenias, sind mehr als 90 Prozent erst seit den 1990er Jahren angekommen. Von diesen Zuwanderern wiederum kamen vier von fünf aus der North Eastern Province. Die Somalis, die schon seit der Kolonialzeit in den kenianischen Städten leben, haben in der Regel nur wenig Kontakt zu den Neuankömmlingen.###Seite4###

Mit den Flüchtlingen aus Somalia und vor allem mit der Zuwanderung in die Städte haben sich die negativen Stereotype gewandelt, mit denen Somalis in Kenia konfrontiert werden. Zum einen werden sie immer wieder als islamische Extremisten dargestellt, die den Terrorismus nach Kenia brächten. Nach jedem Anschlag, wie zum Beispiel im Herbst 2013 auf die Westgate Shopping Mall in Nairobi, verschlechtert sich die Situation von somalischen Flüchtlingen und von kenianischen Somalis: Sie geraten pauschal in Verdacht und leiden unter Übergriffen der Polizei.

Zum anderen beäugen viele Kenianer argwöhnisch die starke wirtschaftliche Präsenz somalischer Händler in den Städten: Es herrscht die diffuse Furcht, Somalis versuchten die kenianische Wirtschaft an sich zu reißen. Oft wird deren Erfolg mit Vermögen aus der Piraterie in den Gewässern am Horn von Afrika in Verbindung gebracht. Dieses Stereotyp bezieht sich vor allem auf Flüchtlinge beziehungsweise Zuwanderer aus Somalia.

Dabei wird häufig übersehen, dass auch viele kenianische Somalis wirtschaftlich erfolgreich sind. Die ökonomisch erfolgreichen Migranten aus Somalia wiederum kommen oft aus reichen, etablierten Familien und können ihr Vermögen sowie ihre Geschäftserfahrung und Kontakte in Kenia nutzen.

So lernte ich 2011 in Mombasa einen Hotelbesitzer kennen, der für den Kauf des Hotels von einem indischen Vorbesitzer und für die Renovierung fast eine halbe Million US-Dollar bezahlt hatte. Der Mann stammte aus einer Politikerfamilie, deren Karriere bis in die Kolonialzeit zurückreichte.

Es gibt immer wieder Zeiten, in denen Abgrenzung eine große Rolle spielt

Die Familie war zunächst über Ägypten nach Dubai geflohen und gehört nun zur kleinen, aber auffälligen und relativ reichen Gruppe der nach Ostafrika zurückgekehrten Somalis. Oft handelt es sich um finanziell besser gestellte Familien mit Kindern, die sich nach dem Willen der Eltern nicht völlig von Somalia lösen sollen. Da das Leben in Somalia noch zu unsicher ist, gehen diese Familien häufig in das benachbarte Kenia.

Der somalischen Bevölkerung in Kenia gelingt es in ruhigen Zeiten relativ gut, als Teil der kenianischen Gesellschaft zu leben. Einige Somalis gehören zum Establishment und haben es geschafft, wichtige politische und wirtschaftliche Posten zu besetzen. Aber es gibt immer wieder Zeiten, in denen die Abgrenzung eine große Rolle spielt: Als der Zensus 2009 zeigte, dass die Gruppe der Somalis deutlich stärker gewachsen war als andere Gruppen, wurden in der öffentlichen Debatte sofort somalische Flüchtlinge verdächtigt, sie hätten kenianische Pässe gekauft. Die Somalis wurden wieder pauschal in die Rolle des „ambivalenten Staatsbürgers“ gedrängt.

Noch schwieriger stellt sich die Situation nach Anschlägen dar, wenn jeder Somali sofort unter Verdacht gerät. Viele Kenianer unterscheiden dabei prinzipiell zwischen „unseren“ und den „fremden“ Somalis, doch wird auch den ersteren oft abgesprochen, echte Kenianer zu sein. Das bringt selbst überzeugte Kenianer unter den Somalis dazu, ihre Position zu überdenken. So hatte Abdi immer betont, er wolle nur in Kenia leben. Doch bei unserem letzten Treffen erzählte er mir, er überlege, ob er sich nicht doch um ein Visum für die USA bemühen solle.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2014: Durchlass hier, Mauer dort
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