Eins zu Null für Thomu Karfu

Der 24-jährige Sozialarbeiter Thomu Karfu fährt jeden Tag mit dem Fahrrad in ein anderes Dorf, um mit Altersgenossen über sexuelle Gesundheit zu sprechen. Er will die Zahl der HIVInfektionen und der ungewollten Schwangerschaften senken. Dafür verteilt er auch Kondome, obwohl ihm das mit seinem katholischen Glauben zunächst schwer vereinbar erschien.

Um halb sechs morgens macht sich Thomu Karfu auf den Fußweg zur Arbeit. Er verlässt sein Dorf im Dunkeln, geht über einen Hügel und blickt auf die spärlichen Lichter von Kasungu. Die Regionalstadt ist nicht viel mehr als ein größeres Dorf mit einigen Läden, die ein bescheidenes Sortiment bieten. Malawis Hauptstadt Lilongwe ist 130 Kilometer entfernt, Kasungu ist tiefste Provinz.

Am Stadtrand steht ein grünweiß gestrichenes Gebäude. Es ist das Gesundheitszentrum von Karfus Arbeitgeber, der Family Planning Association of Malawi (FPAM). Karfu ist eine Art Sozialarbeiter, er klärt junge Leute über Sex, Verhütung und den Schutz vor HIV auf. 15 Dörfer besucht er jeden Monat. Er nennt sich selbst einen „Peer Educator“, was bedeutet, dass er mit Gleichaltrigen arbeitet, zumindest nahezu.

Autor

Felix Ehring

ist freier Journalist in Frankfurt am Main.
Karfu ist 24 Jahre alt, seine Zielgruppe ist zehn bis 24. Die FPAM leistet in fünf von 28 Distrikten Malawis gesundheitliche Aufklärung. Dafür fahren Karfu und die anderen„Peers“ in abgelegene Orte.

Aus dem Schuppen holt Karfu sein Dienstfahrrad und einen Fußball und macht sich auf den Weg. Er strampelt eine sandige Piste bergan bis zur Regionalstraße M1, die Malawi von Nord nach Süd durchzieht, 800 Kilometer lang. Karfu rollt ein Stück über die M1, dann muss er auf eine Piste abbiegen. Autos kommen ihm dort nicht entgegen, nur andere Radler auf dem Weg nach Kasungu. Wenn er die nächste sanfte Anhöhe erreicht hat, sieht Karfu im klaren Morgenlicht die kleinen Dörfer mit ihren vielen winzigen Lehmhäusern. Irgendwie muss Karfu sie alle erreichen. Das ist sein Job.

Manchmal fährt er fünf Kilometer, um an sein Ziel zu kommen, manchmal 25 Kilometer. Im Dorf angekommen, besucht Karfu zunächst den Dorfvorsteher und dankt ihm, dass er mit den Jugendlichen sprechen darf. Dann klemmt er sich den Ball unter den Arm, stellt sich bei den jungen Leuten vor, die schon auf den Besuch aus der Stadt warten, und lädt sie zu einer Partie Fußball ein. So klein die Dörfer auch sind, irgendwo gibt es immer einen freien Platz, manchmal sogar zwei improvisierte Tore.

"Keiner kennt sich mit Kondomen aus"

Über Sex sprechen Malawier nicht offen, auch nicht in den Familien, schon gar nicht auf dem Land. Deshalb spielt Karfu Doppelpässe und schlägt Flanken.„Durch das Fußballspielen vertrauen mir die Jugendlichen“, erklärt er. Der ansonsten eher gemütlich wirkende Karfu verwandelt sich auf dem Platz in einen flinken Mittelfeld-Regisseur. Sein Lieblingsverein ist der FC Barcelona. Nach dem Spiel lädt er alle unter einen schattenspendenden Mangobaum ein. Dann tastet er sich langsam vor. Er fragt, was die Jugendlichen am meisten mögen. Fast alle antworten: die Schule. Denn sie wissen, dass Lernen ein Privileg ist. Jeder vierte Malawier ist Analphabet. Schule bedeutet auch: keine Feldarbeit, zumindest die Hoffnung, später einen Job zu verdienen und mehr zu haben, als der eigene Acker hergibt.

Karfu fragt weiter, was die Jugendlichen für ihre Gesundheit tun: Waschen sie sich die Hände vor dem Essen? Benutzen sie Seife? Was wissen sie über Krankheiten? So nähert er sich vorsichtig dem heiklen Thema sexuelle Gesundheit an. Seine ruhige Stimme und kumpelhafte Verbindlichkeit helfen ihm dabei. Karfu hat selbst drei jüngere Geschwister, die Rolle eines älteren, helfenden Bruders ist nicht bloß einstudiert.

In den Schulen steht Sexualaufklärung mittlerweile auf den Lehrplänen. In Klassenzimmern hängen Plakate, die zum Händewaschen auffordern und erklären, wo sexueller Missbrauch beginnt und wie man sich dagegen wehrt. Aber nach Karfus Erfahrung findet echte sexuelle Aufklärung kaum statt. „Über Verhütung und Familienplanung wissen die Jugendlichen gar nichts“,berichtet er. „Keiner kennt sich mit Kondomen aus in den Dörfern, in die ich das erste Mal komme.“ Und das, obwohl elf Prozent der Bevölkerung in Malawi HIVpositiv sind.

Staatliche Gesundheitsprogramme gehen an Jugendlichen vorbei

Karfu erklärt, wie man sich vor HIV schützt. Er stellt Kondome vor und erklärt, dass sie der beste Schutz sind. Um überhaupt in die Dörfer gelassen zu werden, macht sein Arbeitgeber ein Zugeständnis: Über Sex und Verhütung sprechen die jungen FPAMAufklärer nur mit Jugendlichen ab 17 Jahren. Den Jüngeren bringen sie lediglich hygienische Standards näher. Ist 17 Jahre nicht zu spät? Karfu überlegt. „Ja, vielleicht, aber manche Dorfvorsteher würden nicht akzeptieren, dass ich mit den Jüngeren über Sex spreche.“

Karfu ist katholisch und in seiner Gemeinde engagiert: Er leitet den Kirchenchor. Der Sonntag ist fest reserviert für die Kirche. Kondome zu verteilen, stürzte ihn zunächst in einen Gewissenskonflikt. Deshalb suchte er das Gespräch mit den Ältesten seiner Kirchengemeinde und – gewann ihr Verständnis. „Sie akzeptieren meine Arbeit. Sie sehen ein, dass es notwendig ist“, sagt er.

Karfu ist einer von 15 jungen Aufklärern, die im Distrikt Kasungu für FPAM tätig sind. 300.000 Menschen leben im Distrikt, die überwiegende Mehrheit in Dörfern. Hospitäler und Gesundheitsstationen gibt es nur in den wenigen Städten. Auf dem Land ist der Staat kaum präsent. Und die staatlichen Gesundheitsprogramme sind nicht auf Jugendliche zugeschnitten. Diese Arbeit übernehmen FPAM und andere Organisationen, die mit dem Gesundheitsministerium kooperieren und Geld vom Staat bekommen. Damit hat die Regierung zugleich ein Druckmittel gegen Kritiker aus dem eigenen Land.

Die Stigmatisierung macht den Infizierten zu schaffen

Wichtige Geber indes haben das autokratische Gebaren der Regierung in den vergangenen Monaten gerügt; Großbritannien und Deutschland haben Hilfsgelder eingefroren. Die Bundesregierung hat die Budgethilfe für Malawi gekürzt, weil sie der Regierung undemokratisches Verhalten und die Benachteiligung von Lesben und Schwulen vorwirft. Deshalb sieht es trotz Fortschritten derzeit nicht danach aus, als könne Malawi etwa die Müttersterblichkeit bis 2015 im Vergleich zu 1990 um drei Viertel verringern – wie in den Millenniumszielen angestrebt. Zwar verhüten bereits zwei von fünf Malawierinnen, das ist mehr als in anderen ostafrikanischen Staaten. Andererseits werden nach wie vor viele Teenager schwanger. Weil Abtreibungen verboten sind, sterben täglich junge Frauen an den Folgen heimlicher Schwangerschaftsabbrüche. Denn ein Kind ohne Ehemann gilt als Schmach. Es fehlt also nicht nur Geld, es fehlt auch der politische Wille, gesellschaftliche Zwänge in Frage zu stellen und insbesondere das Verhalten der Männer zu ändern.

Thomu Karfu arbeitet hart dafür, dass mehr junge Leute verhüten und weniger Frauen ungewollt schwanger werden. „Wenn ich ein Dorf einmal besucht habe, fahre ich immer wieder hin, um aufzuklären“, sagt er. Am frühen Nachmittag kehrt er nach Kasungu zurück. Dort, im Garten hinter der kleinen Klinik von FPAM, treffen sich HIV-positive Jugendliche. Sie sehen gesund aus, Medikamente halten das Virus in Schach. Aber die Stigmatisierung macht ihnen zu schaffen. Niemand spricht über HIV, wer den Nachbarn von der Infektion erzählt, muss befürchten, dass er gemieden wird – aus Angst, Unwissen und Aberglaube.

Im Klinikgarten bauen die jungen Leute Gemüse an, das sie auf dem Markt verkaufen. Karfu spricht mit ihnen über ihre Krankheit und gibt ihnen Argumente gegen Klischees wie jenes, dass HIV-positive Frauen Prostituierte seien und die Infektion eine Strafe sei. Wenn die Hitze des Tages langsam weicht, spielen die Jugendlichen gemeinsam Fußball oder Netball, ein Wurfund Passspiel. Alle rennen, rufen, jubeln und vergessen dabei den Alltag. Am späten Nachmittag macht Karfu Feierabend. Er geht nach Hause und kümmert sich um seinen Garten, wo er Mais und Kassava anbaut, Erdnüsse, Bananen und Zuckerrohr. So arbeitet er sechs Tage in der Woche. Sonntags ruht er sich aus. Beim Beten und Singen in seiner Kirche sammelt Karfu Kraft für seinen Job und für die nächsten Fußballspiele.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2012: China: Alles unter Kontrolle?
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