Die Lage in Tunesien erschien im Spätsommer 2013 düster. Im Juli war mit Mohamed Brahmi der zweite linke Politiker innerhalb weniger Monate ermordet worden. Es folgten Massendemonstrationen, ein Generalstreik und Aufrufe an die Regierung, zurückzutreten. Die Regierungspartei, die islamische Partei Ennahda, fürchtete, aus dem Amt gefegt zu werden. Die Opposition warf ihr vor, die revolutionären Ziele verraten zu haben und ihre Macht zu zementieren.
Nach monatelangem politischen Stillstand ging am 14. Dezember 2013 ein Ruck durch die politische Landschaft Tunesiens. Bei einem „nationalen Dialog“ einigten sich die politischen Parteien schließlich darauf, eine neue Regierung zu bilden. Die Abgeordneten der Nationalversammlung billigten Ende Januar 2014 mit großer Mehrheit eine neue Verfassung. Darin sind unter anderem die Glaubens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau festgeschrieben.
Autorin
Johanne Kübler
forscht am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (Italien).Die treibende Kraft bei den Verhandlungen war der tunesische Gewerkschaftsbund UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail). Der größte und bis zur Revolution einzige legale Gewerkschaftsverbund vertritt die Interessen seiner rund 700.000 Mitglieder in jährlichen Lohnverhandlungen gegenüber dem Verband der Arbeitgeber UTICA. Für ein Land mit einer Bevölkerung von 10,6 Millionen ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad Tunesiens hoch. Dies gilt vor allem für Staatsbetriebe, den öffentlichen Dienst sowie für die Industrie, die mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet.
Unter dem Dach der UGTT sind 24 regionale Einzel- und 19 Branchengewerkschaften sowie 21 Basisorganisationen versammelt. Kritiker bemängeln den Zentralismus ihrer Entscheidungsstrukturen, die schwache Repräsentation von Frauen sowie ihre unzureichende Verwurzelung in der Privatwirtschaft und in abgelegenen Regionen wie der Sahelzone. Dennoch ist sie die größte landesweite Organisation, in der Frauen und Männer verschiedener politischer Richtungen, Regionen und sozialer Herkunft vertreten sind.
Mehr noch als eine Gewerkschaft ist die UGTT seit ihrer Gründung 1946 eine politische Organisation, deren soziale Forderungen stets stark mit politischen und nationalen Belangen verwoben waren. Sie stand an der Spitze des Unabhängigkeitskampfs, der 1956 zur Gründung des tunesischen Staates führte. Auch später spielte der Verband eine zentrale politische Rolle. Anders als andere arabische Gewerkschaften wurde die UGTT nie komplett vom Staat vereinnahmt. Die Führungselite folgte zwar meist der Linie der jeweiligen Regierungspartei, auf deren Listen unter den Präsidenten Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali Gewerkschafter ins Parlament kamen.
Die Gewerkschaftsbasis erhielt sich jedoch eine gewisse Unabhängigkeit, vor allem in Krisenzeiten. Besonders die Bildungs-, Gesundheits-, Telekommunikations- und Postgewerkschaften sowie einige regionale und lokale Gewerkschaften galten als Bastionen für linke und arabisch-nationalistische Strömungen. Diese sogenannte „zweite UGTT“, die das Vermächtnis einer unabhängigen Gewerkschaft bewahrt hatte, drängte die Führungselite, die Proteste gegen Ben Ali im Januar 2011 zu unterstützen. Während lokale Gewerkschaftsaktivisten Demonstrationen organisierten, zögerte die Führungselite in Tunis anfangs noch, die Bewegung offiziell zu unterstützen. Drei Gewerkschaftsvertreter ließen sich für Posten in der ersten, von Ben Alis Gefolgsleuten dominierten Übergangsregierung verpflichten, bis sie wenige Tage später dem Druck der Basis nachgaben und zurücktraten.
Der Sturz des Regimes in Tunesien belebte die Zivilgesellschaft und die Arbeiterbewegung. Die Mitgliedszahlen der UGTT verdoppelten sich von 350.000 auf 700.000. Zudem entstanden neue Gewerkschaftsverbände, teilweise unter der Führung ehemaliger UGTT-Gewerkschafter. Insbesondere die im vergangenen Jahr formierte Konföderation der tunesischen Arbeiter und die der Ennahda nahestehende tunesische Arbeitsorganisation zielen darauf ab, das Monopol der UGTT zu brechen und ihr politisches Engagement zu beschneiden.
Ammar Ghiloufi, Gründungsmitglied der Arbeitsorganisation, sieht in dem Verband eine revolutionäre Alternative im Gewerkschaftsbereich. Die UGTT hingegen habe ihre Hauptrolle als Vertreterin der Arbeitnehmerinteressen durch die Konzentration auf politische Fragen vernachlässigt. Bisher stellen die unabhängigen Gewerkschaften die zentrale Stellung der UGTT in Tunesien nicht in Frage, bieten aber tragfähige Alternativen zur früheren Einheitsgewerkschaft. Die größte Herausforderung für sie besteht darin, von den Unternehmen als Verhandlungspartner anerkannt zu werden.
Wichtiger Gegenspieler der Ennahda-Partei
Nach dem Sturz von Präsident Ben Ali hat sich die UGTT zu einer treibenden politischen Kraft entwickelt, die sich die Verteidigung der Ideale der Revolution auf die Fahnen schreibt. Sie war in den sogenannten „Komitees zum Schutz der Revolution“ aktiv, in denen sich bis zu ihrer Auflösung im Oktober 2011 die wichtigsten Kräfte der Opposition organisiert hatten. Sie unterstützte die wiederholten Besetzungen des Platzes vor dem Sitz des Premierministers Anfang 2011, die zum Sturz der beiden ersten Übergangsregierungen und schließlich zu der Wahl der verfassunggebenden Versammlung Ende 2011 führten.
Auch die aus den ersten freien Wahlen im Oktober 2011 hervorgegangene Regierung, die sogenannte Troika, bestehend aus Ennahda, dem Kongress für die Republik (CPR) und der sozialdemokratisch orientierten Ettakatol-Partei, sah sich bald mit Gegenwind von Seiten der UGTT konfrontiert. Neben der neugegründeten Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens), vor allem ein Sammelbecken für Politiker des alten Regimes, entwickelte sich die UGTT zu einem wichtigen Gegenspieler von Ennahda, die bei der Wahl mehr als 40 Prozent der Stimmen erhalten hatte.
Die Verschlechterung der Sicherheitslage und die anhaltende wirtschaftliche Krise brachten die Gruppen zunehmend gegeneinander auf. Der Krieg im benachbarten Libyen ließ die Preise für Lebensmittel und Benzin in die Höhe schnellen. Angestellte im öffentlichen Dienst, die in Tunesien mit am schlechtesten bezahlt werden, demonstrierten für höhere Löhne, um die Preissteigerungen auszugleichen. Darauf sollen Ennahda-Anhänger Müll vor lokalen Gewerkschaftsbüros abgeladen haben. Ennahda-Anhänger beschuldigen die UGTT, mit ihrem politischen Engagement ihre Kompetenzen zu überschreiten und von Teilen des alten Regimes benutzt zu werden, um mit Streiks die Regierung zu sabotieren.
Bei den Demonstrationen zum 1. Mai 2012 standen sich zwei unversöhnliche Blöcke gegenüber. Der Schlachtruf der Revolution, „Arbeit, Freiheit, Würde“ ging im Kampfgeschrei der beiden Gruppen unter. Der Konflikt eskalierte Anfang Dezember 2012, als Gewerkschafter und Anhänger der Ennahda-nahen Ligen zum Schutz der Revolution bei einer Kundgebung anlässlich des 60. Jahrestags der Ermordung des Gewerkschaftsführers Farhat Hached aneinandergerieten. Die UGTT forderte, die Ligen zum Schutz der Revolution zu verbieten. Die islamistischen Milizen haben sich auf ihre Fahnen geschrieben, die „arabisch-islamische Identität Tunesiens“ zu stärken. Die Ennahda lehnte das ab. Die UGTT drohte mit einem Generalstreik und zwang damit die Regierung, die Ausschreitungen in einer Kommission aufzuarbeiten.
Die Positionierung des Gewerkschaftsbundes als Gegengewicht zu den politischen Polen Ennahda und dem Oppositionsbündnis Nidaa Tounes ist nicht unproblematisch. Die anderen politischen Akteure verübeln der UGTT ihre Schlagkraft, die sie in den Jahren des Vakuums aufeinanderfolgender autoritärer Regime erlangt hat. Dies wurde besonders deutlich, als sich die UGTT als Vermittler zwischen den Parteien anbot, um den politischen Stillstand im Land zu beenden. Im Februar 2013 schlug ihr erster Versuch fehl, einen nationalen Dialog anzuregen.
Ennahda zeigte keinerlei Gesprächsbereitschaft gegenüber Nidaa Tounes und warf der UGTT vor, die Initiative nicht mit der Regierung abgesprochen zu haben. Nach einem gescheiterten Versuch von Präsident Moncef Manzouki, den nationalen Dialog anzustoßen, entschlossen sich Ennahda und der Kongress für die Republik schließlich im Mai 2013, der zweiten Runde beizutreten. Auch diese Gespräche waren zunächst nicht von Erfolg gekrönt; erst im Dezember war es dann soweit. Organisiert wurden die Gespräche von der UGTT, der Arbeitgeberorganisation UTICA, der tunesischen Menschenrechtsliga und der tunesischen Rechtsanwaltskammer. So kam der jüngste Kompromiss zustande, der dem Land ein technokratisches Übergangskabinett, eine Verfassung, eine Reform des Wahlrechts und Neuwahlen verschaffen soll.
Die UGTT muss sich auch intern reformieren
Seit dem Sturz des Regimes Ben Ali sprechen Mitglieder der Führungselite der UGTT häufig davon, die Gewerkschaft müsse ihrer „historischen Rolle“ gerecht werden, indem sie Verantwortung nicht nur für Arbeitnehmer, sondern für alle Tunesier übernimmt. Doch ihr politisches Engagement kaschiert ein Dilemma. Das politische System muss stabilisiert werden, damit sich das Land wirtschaftlich erholen kann. Doch die Revolution wurde nicht in erster Linie von Forderungen nach einem politischen Pluralismus oder freien Wahlen, sondern nach Arbeit, sozialer Gerechtigkeit, Würde und Meinungsfreiheit getrieben.
Der Gewerkschaftsführung bleibt zu wenig Zeit, sich für die Belange ihrer Mitglieder einzusetzen. So musste sie bereits Verhandlungen über die Umwandlung von befristeten in unbefristete Arbeitsverträge absagen. Auch interne Reformen, um Korruption zu bekämpfen sowie um die Basis und vor allem Frauen stärker einzubeziehen, gehen nur schleppend voran. Die UGTT spielt im post-revolutionären Tunesien eine einzigartige Rolle. Sie muss nun ihre politischen und sozialen Ambitionen ausbalancieren und der zunehmenden Konkurrenz anderer Gewerkschaften durch interne Reformen begegnen.
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