Weil sie in der DDR keine Zukunft mehr für sich sahen, flohen meine Verwandten 1980 in den Westen. Ein Kontaktmann in West-Berlin beauftragte einen Schleuser, die Flucht zu organisieren. Kosten: 120.000 D-Mark für drei Personen. Die Familie in der Bundesrepublik streckte das Geld vor, und meine Verwandten wurden im Kofferraum eines präparierten Diplomatenautos über den Checkpoint Charlie in die Freiheit gebracht.
Die Schleuser hießen damals noch Fluchthelfer, was viel sympathischer klingt. Sie waren nicht gerade als wohltätige Samariter angesehen, wohl aber akzeptiert als Männer, die einen zwar teuren, aber notwendigen Job erledigen – und das sogar mit höchstrichterlichem Segen: 1977 gab der Bundesgerichtshof einem Fluchthelfer Recht, der einen Kunden auf die Zahlung des vereinbarten Honorars verklagt hatte. Verträge mit Fluchthelfern verstießen gegen keine Gesetze und seien „nicht sittenwidrig“, hieß es in der Urteilsbegründung.
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Wer heute hingegen einem Wehrdienstverweigerer aus dem Polizeistaat Eritrea oder einer Familie aus dem Bürgerkrieg in Syrien bei der Flucht nach Europa hilft, gilt als krimineller Menschenschmuggler, dem das Handwerk gelegt werden muss. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sagte nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa mit mehr als 350 Toten, es seien die „Schleuser-Verbrecher, die die Menschen mit falschen Versprechungen in Lebensgefahr bringen und oftmals in den Tod führen“.
Natürlich nutzen viele Schleuser die Not der Flüchtlinge für den eigenen Profit, so wie die DDR-Fluchthelfer das auch getan haben. Aber die Verantwortlichen dafür sitzen in Brüssel, Berlin und anderen Hauptstädten der Europäischen Union. Die Toten von Lampedusa kamen aus Syrien, Somalia und Eritrea – viele von ihnen hätten mit großer Wahrscheinlichkeit Asyl bekommen. Aber die EU gab ihnen keine Chance, ihr Recht darauf in Anspruch zu nehmen. Den Flüchtlingen blieb keine andere Wahl, als für viel Geld in ein hoffnungslos überfülltes Boot zu steigen. Einen legalen Weg nach Europa gab es für sie nicht.
Migration ist ein Menschenrecht, man kann sie nicht verbieten
Die EU könnte sofort viel mehr für die Flüchtlinge tun, ohne ihre Migrationspolitik grundlegend zu ändern. Sie könnte aus humanitären Gründen in den UN-Flüchtlingslagern Visa vergeben, sie könnte enger mit dem UN-Flüchtlingskommissar zusammenarbeiten und großzügiger registrierte Flüchtlinge aufnehmen. Aber sie tut es nicht. Stattdessen will sie die Abwehr noch verstärken. Doch das wird keinen zur Flucht entschlossenen Menschen davon abhalten, sich auf den Weg zu machen. Lediglich die Routen werden noch gefährlicher werden und die Profite der Schleuser weiter steigen.
Ein Grundproblem der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik ist, dass sie die Migranten nicht als mit Rechten ausgestattete und verantwortlich handelnde Menschen betrachtet. Sie sieht in ihnen lästige, im besten Fall bedauernswerte Objekte, mit denen man nichts zu tun haben will. Männer und Frauen aus Ländern wie Nigeria oder Kamerun, die nicht politisch verfolgt werden, sondern einfach in Europa ihr Glück machen wollen, werden als Armuts- oder Wirtschaftsflüchtlinge verächtlich gemacht. Ein Deutscher hingegen, der aus denselben Gründen in die USA oder nach Australien auswandert, gilt als einer, der sein Schicksal tatkräftig in die eigenen Hände nimmt. Deutschland leistet sich mit „weltwärts“ ein millionenschweres Freiwilligenprogramm, das es Akadamikersöhnen und -töchtern ermöglicht, nach Afrika zu gehen, um dort Erfahrungen zu sammeln. Aber wehe ein junger Afrikaner kommt auf die Idee, den Spieß umzudrehen und sich – auf eigene Kosten – in Deutschland umzusehen.
Migration – aus Not, zum Broterwerb oder schlicht aus Neugier – hat es immer gegeben und wird es immer geben. Sie ist im Übrigen ein Menschenrecht. Migration kann man nicht verbieten. Aufgabe der Politik wäre es, das den Bürgern zu vermitteln, statt ihnen Angst vor Einwanderern zu machen. Aber von den Regierungen in Europas Hauptstädten ist das nicht zu erwarten. Als die Männer, Frauen und Kinder aus Syrien im Flüchtlingsheim Berlin-Hellersdorf im Sommer von einer Horde Nazis empfangen wurden, hielt es die Bundesregierung nicht für nötig, klar Partei zu ergreifen für die Menschen, die kurz zuvor dem Krieg in ihrer Heimat entkommen waren.
Stattdessen stellten sich Bürger und Bürgerinnen schützend vor die Flüchtlinge. Solche Initiativen, zu denen auch die Aufnahme von obdachlosen Zuwanderern in Kirchengemeinden zählt, machen Hoffnung. Sie zeigen, dass wir mit Fremden auch anders umgehen können. So dass sie sich bei uns etwas weniger fremd und irgendwann vielleicht sogar heimisch fühlen können.
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