„Schulen müssen sich stärker öffnen“

Das Jahrzehnt 2005 bis 2014 ist die UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung". Das Ziel der Initiative ist es, Bildung weltweit so zu gestalten, dass sie die Menschen zu einem besseren Umgang mit globalen Problemen befähigt sowie Werte fördert, die für ein friedliches Zusammenleben in einer gerechteren Welt unerlässlich sind. Anfang April hat die UN-Kulturorganisation UNESCO mit einer Konferenz in Bonn eine Zwischenbilanz gezogen. Die Abschlusserklärung der Konferenz lobt die bisherigen Erfolge, ruft aber zugleich dazu auf, das Thema nachhaltige Entwicklung stärker in Lehrpläne und die Ausbildung von Bildungspersonal einzubauen. Der Gymnasiallehrer Martin Geisz erläutert, wie Fragen zu Globalisierung und Entwicklung im Unterricht behandelt werden können und an welche Grenzen man dabei stößt.

Wie sieht Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Praxis aus?
Ein Beispiel aus dem Unterricht im Fach „Politik und Wirtschaft" in einem Leistungskurs der 13. Klasse in Hessen: Auf dem Lehrplan steht die Entwicklung der internationalen Politik nach der Wiedervereinigung. Wir haben im letzten Schuljahr die Millenniumsziele der UN (MDGs) zum Thema gemacht. Die Schüler hatten eine Woche Zeit, sich zu informieren und in Gruppen Unterrichtsbeiträge vorzubereiten. Im Rahmen dieser Einheit haben wir uns dann unterschiedliche Entwicklungsprojekte angeschaut und überlegt, welchen Beitrag sie zu „nachhaltiger Entwicklung" leisten können.

Wie aufgeschlossen sind Schülerinnen und Schüler  Ihrer Erfahrung nach für solche Themen?
Laut der letzten Shell-Jugendstudie sind 40 Prozent der Schüler an Fragen der Globalisierung interessiert. Eine andere Gruppe von gut einem Drittel hingegen ist eher gleichgültig eingestellt. Dies ist etwa auch das Bild, das ich bei uns an der Schule finde. Gleichzeitig engagieren sich einige außerhalb der Schule. Aus meiner letzten Klasse zum Beispiel ist ein Schüler nach Afrika gegangen und arbeitet dort im Rahmen seines Ersatzdienstes als Hilfslehrer an einer Schule. Acht Mädchen haben eine Arbeitsgruppe gegründet, die als kleines Spendenwerk diese Schule unterstützen will. Das Interesse an Fragen zur Entwicklungspolitik ist insgesamt allerdings nicht besonders groß.

Haben sich das Interesse und das Engagement von jungen Leuten gewandelt, seit Sie Lehrer sind?
Ich glaube, dass junge Leute heute insgesamt distanzierter zu politischen Themen sind und nicht mehr so stark wie vor zwanzig Jahren den Anspruch haben, durch ihr Tun etwas zu verändern. Das Problem ist, dass in der Schule heute fast alles auf Leistungsnachweise in den Kernfächern hinausläuft. Die Diskussionen um das Abschneiden Deutschlands bei den PISA-Studien hat das noch verstärkt. Die Schule will am Ende anständige Prüfungsergebnisse haben, die Schüler wissen und wollen das auch - mit dem Ergebnis, dass für Themen nachhaltiger Entwicklung immer weniger Platz ist. Schüler dosieren ihr Engagement meist ganz pragmatisch danach, was sie am Ende des Schuljahres brauchen. Für anderes ist einfach keine Zeit. Die Mädchen mit der Spendengruppe zum Beispiel begleitet die Schule mit viel Wohlwollen, verweist sie aber auf die Freizeit.

Schulen müssten also anders organisiert sein?
Richtig. Die Kultusministerkonferenz und das BMZ haben 2007 gemeinsam einen „Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung" herausgegeben. Darin heißt es, dass diese Themen fächerübergreifend unterrichtet werden sollten. In der schulischen Praxis hingegen fokussiert sich fast alles auf einzelne Fächer. Dazu kommt, dass Fächer wie Erdkunde, Geschichte und Politik ständig neue Themen aufgeladen bekommen, ihnen aber nicht mehr Zeit eingeräumt wird. Projekttage und Projektwochen werden immer seltener. Ganztagsschulen würden völlig neue Möglichkeiten eröffnen.

Nachhaltige Entwicklung umfasst Themen wie Umwelt, Armut, Weltpolitik und Weltwirtschaft. Womit erreicht man Schüler am besten?
Ich antworte mal mit Blick auf die Klassen 10 bis 13. Bei Fragen nach wirtschaftlichen Zusammenhängen besteht ein großes Informationsbedürfnis, etwa zu Hintergründen der gegenwärtigen Finanzkrise. Es gibt Interesse an Umwelt- und Klimafragen, dies ist vor allem katastrophengespeist. Wenn es wieder einmal eine neue Studie gibt, die sagt, dass alles schlimmer wird, wird zwar noch nach Hintergründen gefragt, aber dann wird achselzuckend zur Tagesordnung übergegangen.

Alarmmeldungen, die aufrütteln wollen, bewirken also eher das Gegenteil?
Ja, wobei eine solche fatalistische Einstellung nach meiner Beobachtung generell zunimmt.

Wie sollte man Schüler ansprechen, um dem entgegenzuwirken?
Man sollte sie in ihrer eigenen Lebenswelt ernster nehmen. Generell gilt, dass sich Schule stärker öffnen muss. Wenn man zum Thema Menschenrechte Impulse von außerhalb der Schule einbringt, dann weckt das großes Interesse und Engagement. Der Vertreter von Amnesty International, der schildert, wie es ist, einen Gefangenen in einer Diktatur zu betreuen, kann mehr in Gang bringen als 25 Stunden Unterricht. Für einen solchen oft professionellen Einsatz von nichtstaatlichen Organisationen an den Schulen müssten Mittel bereitgestellt werden. Der Eine-Welt-Laden in der Schule und der Kontakt zu engagierten Organisationen am Ort und in der Region bereichern das Schulleben. Gäbe es Ganztagsschulen, dann gäbe es mehr Möglichkeiten und Zeit, Impulse von außen einzuholen und Unterricht anders zu gestalten. Außerdem: Zum einen muss man sich als Lehrer eingestehen, dass man vieles einfach nicht erreichen kann. Zum anderen aber muss man versuchen, den Schülern zu zeigen, dass man im eigenen Bereich durchaus etwas verändern kann - dass man den Schulneubau beispielsweise als Niedrigenergiehaus planen oder dass man in der kommunalen Umweltpolitik etwas bewirken kann.

Wie groß ist bei den Lehrern die Bereitschaft, Themen aus dem Bereich nachhaltiger Entwicklung anzubieten?
Viele Kollegen haben mit nachhaltiger Entwicklung erst einmal wenig am Hut, sind aber sehr offen der Welt und anderen Kulturen gegenüber und tragen das auch in die Schule. Besonders gibt es viele jüngere Kollegen und Kolleginnen, die diese Themen ernst nehmen - wenn auch sehr eng orientiert am Lehrplan. Dann gibt es natürlich noch die Gruppe der schon lange Engagierten, häufig seit 1968. Diese Gruppe wird aber natürlich immer kleiner. Viel Bereitschaft gibt es auch von einzelnen Lehrkräften, die in NGOs, dem Fairen Handel oder Kirchengemeinden engagiert sind.

Haben Themen zu nachhaltiger Entwicklung ein ausreichend großes Gewicht in den Lehrplänen in Deutschland?
Ja, allerdings nicht unbedingt in der Praxis. Der hessische Lehrplan im Fach „Politik und Wirtschaft" sieht für die Oberstufe in der 13. Klasse ein ganzes Jahr zu Fragen internationaler Politik und zum Thema Globalisierung vor. In Klasse 13 dürfen die Schüler aber das Fach abwählen. Ich vermute mal, dass in Hessen mehr als ein Drittel der Gymnasiasten Abitur macht, ohne je etwas von globalen Zusammenhängen im Politikunterricht in der Oberstufe gehört zu haben. Das Problem ist, dass die Fächer - übrigens auch Religion und Ethik - im Schulalltag nicht das nötige Gewicht haben. Nach PISA sind vor allem Mathematik und Deutsch mit Stunden verstärkt worden, und die Zeit muss anderswo eben wieder eingespart werden.

Welche Bedeutung hat der von Ihnen erwähnte Orientierungsrahmen der Kultusministerkonferenz und des BMZ?
Der Plan ist wenig verbreitet. Es gibt ihn im Internet, aber ich muss etwas bösartig anmerken, dass er an fast keiner Schule gedruckt vorliegt. Das gleiche gilt für Studienseminare, an denen Lehrer ausgebildet werden. Der Orientierungsrahmen ist längst nicht so präsent, wie es wünschenswert wäre. Außerdem ist er lediglich eine Richtschnur, an der sich beispielsweise Curricula, Schulen und Materialentwickler orientieren sollen. Weil die meisten Lehrer sich heute zunehmend eng an Fachlehrpläne halten - schon wegen der Orientierung an den zentralen Abschlussprüfungen -, ist dies ein Mangel. Hinzu kommt, dass die Ziele des Plans am ehesten in fächerübergreifendem Unterricht zu erreichen wären. Und das entspricht, wie gesagt, nicht der Schulrealität. Zudem greift der Orientierungsrahmen an einem wichtigen Punkt zu kurz: Er umfasst weder den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht noch die musischen Fächer. In diesen Fächern aber lebt an den Schulen das globale Lernen.

In den musischen Fächern?
Natürlich. Musik und Kunst enden nicht in Deutschland oder Europa. Bei den Schülern müsste Interesse für Weltkultur geweckt werden. Das muss in Lehrplänen stärker verankert werden, sonst kommt es im Unterricht eher wenig vor.

Wirkt sich die UN-Dekade zu Bildung für nachhaltige Entwicklung auf den Unterricht aus?
Ja. Es gibt zum Beispiel die so genannten „Dekade-Projekte": Das sind vorbildliche Initiativen aus der Bildungs- und Jugendarbeit, die von einer Jury ausgezeichnet werden. Daraus kann ich für meine eigene Arbeit viele Anregungen mitnehmen. Die Dekade hat außerdem Verständnis dafür geweckt, dass Umweltbildung und globales Lernen zusammengehören. Es lässt sich außerdem beobachten, dass Schulen darum bemüht sind, in ihren Programmen, zum Beispiel für Schulpartnerschaften, auf das Thema nachhaltige Entwicklung Bezug zu nehmen. Auch das ist sicher eine Wirkung der UN-Dekade.

In der „Bonner Erklärung", die die Teilnehmer der Konferenz zur Halbzeit der Dekade Anfang April verabschiedet haben, heißt es, mittels Bildung und lebenslangen Lernens „können wir Lebensstile erreichen, die auf wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit, Ernährungssicherheit, ökologischer Integrität, nachhaltigen Existenzgrundlagen, Respekt gegenüber allen Lebensformen sowie starken Werten ruhen, die den sozialen Zusammenhalt, die Demokratie und gemeinsames Handeln stärken". Ist das nicht eine maßlose Überforderung von Bildung?
Der Verdacht liegt tatsächlich nahe, dass hier wieder einmal von der Bildung Lösungen für umfassende Probleme erwartet werden. Wenn Bildung etwas verändern soll, dann müsste sie ganz anders verankert sein. Wenn ich meine Abiturienten frage, was für sie das Schlimmste an der Schule war, dann lautet die Antwort meistens, dass sie alles vorgesetzt bekommen haben. Schule muss einfach offener werden. Und da sich heute alles um Leistung dreht, müsste man auch deutlicher hinterfragen, welche Art Leistung wir eigentlich wollen.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

Martin Geisz, Jahrgang 1948, ist Lehrer im hessischen Friedrichsdorf für „Politik und Wirtschaft" und Philosophie. Beim Hessischen Bildungsserver beschäftigt er sich mit Globalem Lernen und Umweltbildung. Er hat zudem am „Orientierungsrahmen Globale Entwicklung" mitgearbeitet.

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