Vor dem Opfertod gerettet

Sam Olukoya
Olusola Stevens mit seinen Schützlingen. Seit Jahren drängt das Missionars­ehepaar die nigerianische Regierung, etwas gegen Zwillingstötungen zu unternehmen.
Die Bassa-Komo im Zentrum Nigerias töten Zwillinge, um sich die Götter gewogen zu stimmen. Missionare bekämpfen diesen Kult. Doch manchmal kommen sie zu spät.

Vor über hundert Jahren gelang es der schottischen Missionarin Mary Slessor, die Opferung von Zwillingsbabys im Südosten Nigerias zu beenden. Unter den Bassa-Komo, einer ethnischen Gruppe im Hauptstadtterritorium um Abuja, ist diese Praxis noch heute verbreitet. Die in abgelegenen Dörfern lebenden Bassa-Komo glauben, dass bestimmte Säuglinge böse sind und den Göttern geopfert werden müssen. Dazu gehören Zwillinge und Babys, deren Mütter während oder kurz nach der Geburt gestorben sind.

Pastor Olusola Stevens und seine Frau Chinwe von der Christian Missionary Foundation haben sich zusätzlich zu ihrer missionarischen Arbeit bei den Bassa-Komo dem Schicksal der Kinder angenommen, die geopfert werden sollten. 50 Babys hat das Ehepaar schon vor dem Tod gerettet und in einem Heim in Gwagwalada untergebracht – in sicherer Entfernung vom Land der Bassa-Komo.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.

Über jedes der Kinder im Heim können die Stevens’ eine erschreckende Geschichte erzählen. Ein Kind namens Miracle („Wunder“) etwa war schon an die Brust der toten Mutter gebunden, um mit ihr begraben zu werden, als es gerettet wurde. Das sei der übliche Weg, Babys zu töten, deren Mütter während oder nach der Geburt gestorben sind, sagt Olusola Stevens. Die Tötung der Zwillinge laufe anders ab: „Die Männer weichen giftige Wurzeln in Wasser ein und geben den Babys die Flüssigkeit zu trinken.“ Stevens freut sich, wenn er den Kindern beim Spielen zuschaut: „Ich habe einige von ihnen gerettet als sie wenige Tage alt waren,“ sagt er. „Jetzt, wenn ich sie aufwachsen sehe, merke ich erst, welch kostbares Leben ich bewahrt habe.“ 

Es ist schlicht Glück, ob ein Kind gerettet wird oder nicht

Die Dörfer der Bassa-Komo liegen so weit abseits, dass außer den Missionaren dort keiner hingeht. Die Missionare sind die einzigen, die sich der unerwünschten Babys annehmen. Aber sie sind zu wenige, um sich um alle zu kümmern. „Es gibt rund 45 Dörfer, in denen Zwillinge getötet werden, aber die Missionare kommen nur in 18 davon“, sagt Stevens. Die übrigen seien sehr schwer zu erreichen und außerdem durch Flüsse vom Umland abgeschnitten. Das brachte die Bemühungen der Missionare schon mehrmals zum Scheitern. Als durch Zufall drei stillende Mütter gleichzeitig in einem Dorf starben, schickte Stevens sofort sein Team los, um die Neugeborenen der Toten zu retten. Aber sie fanden kein Kanu, um den Fluss zu überqueren und mussten bis zum nächsten Morgen warten. Als sie das Dorf erreichten, lagen die Säuglinge schon mit ihren Müttern im Grab: „Wir haben alle geweint, weil wir diese Gelegenheit verpasst haben“, erinnert sich Stevens. 

Weil im Land der Bassa-Komo nur sehr wenige Missionare arbeiten ist es schlicht Glück, ob ein Kind gerettet werden kann oder nicht. Die Leute seien sehr verschlossen, und die Missionare wüssten nicht immer Bescheid, wenn ein Baby geopfert werden soll, sagt Stevens. Wenn die Missionare von einer anstehenden Opferung hören, bitten sie die Gemeinschaft, die Babys abzugeben. In manchen Fällen seien die Leute froh, das „böse Kind“ auf diese Weise loszuwerden, manchmal seien die Missionare aber machtlos. „Wenn sie fest entschlossen sind, die Babys zu opfern, können wir nichts tun“, sagt Stevens.

Die Opferkultur der Bassa-Komo ist eng mit ihrer traditionellen Religion verbunden. Die Leute verehren Gottheiten und kommunizieren mit ihnen durch Beschwörungsriten. „Dafür werden den Göttern Tiere geopfert und ihr Blut wird auf einen Altar geschüttet“, sagt Micah  Elijah, Sohn eines Oberpriesters der Bassa-Komo. Elijah wurde dazu ausgebildet, seinem Vater in dessen Amt  zu folgen, wandte sich dann aber zur Enttäuschung seiner Gemeinschaft dem Christentum zu.  

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Die Opfergaben sind ein wichtiger Teil der Reli­gion der Bassa-Komo. „Es dreht sich alles um Opfergaben, wenn sie nichts opfern, haben sie nicht das Gefühl, das Richtige zu tun“, sagt Solomon Amahorji, einer der Missionare. Deshalb fühlten die Bassa-Komo sich dazu verpflichtet, Zwillinge oder die Babys von Müttern, die während der Geburt sterben, zu opfern. In Häusern, in denen Zwillinge getötet wurden, wird ein Altar errichtet und mit Tierblut beschmiert, um die bösen Geister zu vertreiben, die in den Zwillingen steckten.

Vor mehr als hundert Jahre hatten einige Gemeinschaften in Nigeria einen ähnlichen Glauben wie die Bassa-Komo. Der Opferkult starb jedoch allmählich aus, als die Leute ihre traditionelle Religion zugunsten des Christentums ablegten. Die von Mary Slessor missionierten Efiks sind eines der bekanntesten Beispiele für diesen Wandel. Auch die Missionare in der Region der Bassa-Komo sehen im christlichen Glauben ein wirksames Instrument, um die Leute zu einem Umdenken zu bewegen: „Wir arbeiten gegen die schädlichen Auswüchse ihrer Religion wie das Töten der Säuglinge. Das sind schlimme Praktiken, die den christlichen Grundsätzen widersprechen, “sagt Chinwe Stevens. „Hier haben wir wirklich einen Konflikt mit den Leuten.“ Aber es sei keine einfache Aufgabe, die Bassa-Komo zu bekehren: „Es ist ein spiritueller Kampf, sie vom Christentum zu überzeugen, denn sie sind sehr stark in ihrem Glauben verwurzelt“, erklärtder Missionar Solomon Amahorji.

Um diese Widerstände zu überwinden, folgen die Missionare einem Ansatz, den sie als „Bekehrung mit menschlichen Antlitz“ bezeichnen. Dazu gehört für Stevens nicht nur, ihnen die christliche Lehre näher zu bringen, sondern auch, ihre Lebensumstände durch Schulbildung und Gesundheitsversorgung zu verbessern. Die sozialen und physischen Bedürfnisse zu befriedigen eröffne dem Christentum den Eintritt in die Gemeinschaft der Bassa-Komo. „Wenn du freundlich zu ihnen bist, fällt die Schutzmauer, die sie um ihre Religion errichtet haben, allmählich in sich zusammen“, sagt Amahorji.

Den Priestern und Medizinmännern der Bassa-Komo missfällt die Freundlichkeit der Missionare. Sie sind normalerweise für die spirituelle Führung ihrer Gemeinschaft verantwortlich und lehren die Leute, dass die Götter über ihre Gesundheit wachen. Sie beschmieren die Wände ihrer Behausungen mit Asche und Tierblut, in dem Glauben, dass solche Praktiken vor Krankheiten schützen. „Während sich die einheimischen Ärzte ihre Dienste mit Tieren oder Nahrungsmitteln bezahlen lassen, kümmern sich die Missionare kostenlos um die Kranken“, sagt Amahorji. Die Menschen merkten, dass die Medikamente der Missionare wirksamer und sicherer sind als die Behandlung der traditionellen Heiler und Priester.

Missionare kümmern sich besser um Gesundheitsprobleme

Weil es in den abgelegenen Dörfern an Krankenhäusern und sauberem Trinkwasser mangelt, leiden viele Bassa-Komo an Krankheiten, die über Keime im Wasser übertragen werden. Die Folgen sind ein relativ schlechter Gesundheitszustand und viel Todesfälle, besonders unter gefährdeten Gruppen, wie stillenden Müttern. Für Elijah ist der schlechte Gesundheitszustand seiner Leute ein klares Anzeichen, dass die von seiner Gemeinschaft unter der Führung der traditionellen Priester und Medizinmänner verehrten Gottheiten versagt haben.

Anstatt sie gesund zu machen, ließen sie sich von ihren Göttern dazu anstiften, unschuldige Babys zu töten: „Sie huldigen den Götzen noch immer, weil sie dieser Praxis unterworfen worden sind“, sagt Elijah. Amahorji dagegen glaubt, dass die traditionellen Priester immer mehr an Vertrauen verlieren, weil sich die Missionare besser um die Gesundheitsprobleme kümmern: „Einige, die früher gegen uns waren, werden nun zu Freunden.“

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Bis die Opferung der Kinder ganz aufhören wird, ist es noch ein langer Kampf. Und es ist ein Kampf, der nur gemeinsam mit den Bassa-Komo zu gewinnen ist. Den Schlüssel zum Erfolg sehen die Missionare in den Kindern, die vor dem Opfertod gerettet wurden. Deshalb gibt sie Stevens auch nicht zur Adoption frei. Vielmehr hofft er, dass er sie als Erwachsene zu ihren Familien zurückbringen kann, um den Leuten zu beweisen, dass sie keine bösen Kinder sind. Ein Schritt, den er nur sehr vorsichtig gehen will: „Natürlich besteht das Risiko, dass sie die Kinder noch immer töten wollen, wenn wir sie zurückbringen.“

„Wenn die Regierung ein Krankenhaus baut, geht die Sterberate zurück“

Auch konvertierte Jugendliche wie Elijah sollen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Christentums unter den eigenen Leuten spielen. Der junge Mann, der später Pastor und Missionar werden will, verlor selbst seine älteren Brüder, die als Zwillinge auf die Welt kamen und nach der Geburt getötet wurden. Er verließ sein Dorf 2002  auf der Suche nach einer westlichen Ausbildung, die ihn mit dem nötigen Rüstzeug ausstatten soll, eines Tages als Missionar in sein Dorf zurückzukehren. Die Vorstellung, dass aus dem Sohn eines Oberpriesters ein Pfarrer werden soll, kam bei seiner Familie allerdings gar nicht gut an. „Sie nennen mich das Chamäleon, das nach einer Gehirnwäsche seine Farbe gewechselt hat und die Religion des weißen Mannes angenommen hat, die voller Lügen ist“, berichtet er. Seit Jahren drängt Stevens die Regierung, etwas gegen die Tötungen der Babys zu unternehmen. Erst jetzt hat die Verwaltung des Hauptstadtterritoriums seine Bitten erhört und einen Ausschuss eingerichtet, um die Morde zu untersuchen. „Die Verwaltung hält diese urkulturellen Praktiken für verwerflich und völlig inakzeptabel in unserem heutigen Zeitalter“, sagte Olajumoke Akinjide, Staatsministerin des Hauptstadtterritoriums.  Erste Untersuchungen deuteten darauf hin, dass die Berichte über die Tötungen der Wahrheit entsprechen. „Es ist schlicht und einfach Mord“, sagte sie bei der Einberufung des Untersuchungsausschusses. 

Obwohl Stevens die Untersuchungen der Regierung begrüßt, warnt er vor einem zu energischen Vorgehen. Er befürchtet, dass sich die Bassa-Komo in noch  entlegenere Gebiete zurückziehen könnten, um sich der Kontrolle durch die Regierung zu entziehen. „Wenn du das Gesetz bemühst, verlierst du den Draht zu den Leuten. Bedrohst du sie, dann siedeln sie einfach um, und wir finden sie nicht mehr. Sie sind anders als wir, sie haben nicht so viele Dinge, die sie an einen Ort binden“, sagt Stevens.   

Bislang lebten die Bassa-Komo fernab jeder staatlichen Kontrolle und Zuwendung, deshalb könne man da nicht einfach hingehen und ihnen etwas vorschreiben. Gerade das Fehlen staatlicher Einrichtungen habe das traditionelle Kinderopfer befördert. „Wenn die Regierung ein Krankenhaus in diesen Dörfer baut, geht die Sterberate zurück“, sagt Stevens. Und die Einrichtung von Schulen könnte dazu beitragen, dass die Bassa-Komo ihren Aberglauben ablegen – und damit auch seine tödlichen Auswüchse.

Aus dem Englischen von Sebastian Drescher

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erschienen in Ausgabe 11 / 2013: Kriminalität
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