Traumatisiert auf Londons Straßen

Als Tawfik acht Jahre alt war, kam er aus dem Bürgerkrieg in seiner Heimat in die britische Hauptstadt. Dort findet er sich nur schwer zurecht, schon als Teenager geriet er mit dem Gesetz in Konflikt. Oft werden junge Somalier aber auch pauschal verdächtigt.

Tawfik ist nicht sein richtiger Name. Er hat ihn  sich ausgesucht; im Arabischen bedeutet er „Glücksfall“. Er ist 21 Jahre alt, sieht aber viel jünger aus. Er trägt einen knöchellangen, weißen „thawb“, das traditionelle arabische Gewand für Männer, und grübelt über sein altes Leben nach: über die Gewalt, die falschen Freunde und über den Ärger mit der Polizei. Wut schwingt mit, wenn er erzählt. Kein Wunder: Zweimal wurde er niedergestochen. Einmal ging eine Bande von sechs jungen Männern in einer Art Blutrausch an einer Straßenecke im Westen Londons mit Küchenmessern auf ihn los. Einer der Angreifer stach ihn in den linken Oberarm und bohrte seine Klinge tief in den Muskel. Er musste ins Krankenhaus. Bloß ein „Zwischenfall“, sagt er heute, ein „Zufall“ sei das gewesen. Er will nicht sagen, wer die Angreifer waren und warum sie ihn attackierten. Dieser Vorfall wurde nie der Polizei gemeldet, niemand wurde verhaftet. Tawfik sagt, auf der Straße sei der Ruf das Wichtigste. Niemand will deshalb als „snitch“ gelten, als Verräter. Und er fügt hinzu: „Das passt auch nicht zu einem Somalier.“

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Tawfik war acht Jahre alt, als er aus Mogadischu floh. Das war 2001, und  wie viele andere Somalier fand er sich als Flüchtling wieder, fern der Heimat. Seine Kindheit zeugt vom Absturz seiner Nation in eine Orgie der Gewalt und der Anarchie. Kind zu sein hatte für ihn nichts zu tun mit Sandburgen und Spielzeug. Für Tawfik bedeutete Kindheit Gewehrfeuer, Hunger und Angst. Bis er nach Großbritannien kam, das heute die größte somalische Diaspora außerhalb Afrikas beherbergt; die Schätzungen schwanken zwischen 200.000 und 250.000 Mitgliedern. Die meisten leben in London in Vierteln, in denen Armut und Arbeitslosigkeit hoch und die von der übrigen Gesellschaft weitgehend abgekoppelt sind.

Die jungen Somalier aus Tawfiks Generation kamen mit acht, zehn oder zwölf Jahren auf die britischen Inseln, den Krieg noch in frischer Erinnerung. Sie sprachen kein Englisch, konnten keine Schulbildung vorweisen und schlugen sich durch den Alltag. Die Einrichtungen, die sich eigentlich um sie kümmern sollten, Schulen und lokale Behörden, konnten nichts mit ihnen anfangen. Sie wurden einfach in das ihnen fremde britische Leben geworfen, ausgestattet lediglich mit Ratgebern oder „Gebrauchsanweisungen“. Die jungen Leute stürzte das in Verwirrung, sie fühlten sich ausgegrenzt und wussten nichts mit sich anzufangen in ihrer neuen Heimat. Die Briten boten den Flüchtlingen aus Somalia ein Dach über dem Kopf, aber sie interessierten sich  nicht für sie. Heute sieht es finster aus für die Somalier: Sie sind ärmer, häufiger arbeitslos und weniger gut ausgebildet als jede andere Migrantengruppe in England.

Vom Mobbing-Opfer zum „coolsten Typen der Schule“

Als Teenager geriet Tawfik auf die Straße, zeigte asoziales Verhalten, schloss sich Gangs an und wurde kriminell. Es fängt ganz harmlos an mit gelangweilten jungen Männern, die sich an Straßenecken treffen und das tun, was Teenager überall tun: Spaß haben, mit Freunden rumalbern und in jugendlichem Übermut herumprahlen. Das ist nicht verboten, sondern gehört zum Jungsein. Doch die übrige und ältere Gesellschaft stempelt junge Leute oft vorschnell als Unruheherde ab, nur weil sie Kapuzenpullis tragen und eine bestimmte Art Musik hören. Dabei wird nur für eine Minderheit aus diesem Spaß Ernst, nur wenige der jungen Männer tun sich erst für kleinere kriminelle Handlungen zusammen und verkaufen zum Beispiel Marihuana, um später eventuell Gangs zu gründen.

Tawfik tat sich schwer in der Schule, er wurde gemobbt, weil er anders war. Er fühlte sich wie ein Aussätziger. Er begann sich gegen die täglichen Schikanen zu wehren, setzte sich durch und wurde jeden Tag wütender. Mit jedem neuen Schuljahr verschlimmerte sich sein Verhalten. Die anderen Schüler registrierten das, Tawfik gewann ihren Respekt, er erlangte Ruhm und fand Freunde. Mit 15 Jahren wollte er seinen Ruf festigen: Er suchte sich den stärksten Jungen der Schule und besiegte ihn in einem Kampf. Von einem Mobbing-Opfer wurde er „einer der coolsten Typen der ganzen Schule“, sagt er.

Tawfik wurde erwachsen, als in den Jahren 2005 bis 2009 eine Welle von Messerstechereien und Verbrechen mit Schusswaffen über London schwappte. Seine Schule wollte nicht länger zusehen, nachdem schon einmal ältere somalische Jungs, die in den 1990er Jahren gekommen waren, in die Kriminalität und in Gangs gesogen worden waren. Die Schulleitung lud eine Gruppe ehemaliger Gangmitglieder ein, sie erzählten jungen Leuten wie Tawfik von den Gefahren, die das Leben in einer Gang bringt. Das beeindruckte Tawfik. Er begann sich zu ändern und fand mit Hilfe dieser Gruppe zum Kickboxen. In nur einem Jahr verbesserte er seine Schulleistungen in etlichen Fächern um mehrere Noten.

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Mit 16 Jahren hatte Tawfik sein Leben komplett verändert. Sein Tutor zeichnete ihn aus als Schüler mit der beeindruckendsten Leistungssteigerung. Er hatte jetzt Pläne, die Universität und Jobs winkten. Doch es kam anders, er fiel zurück in sein altes Verhalten. Er konnte einfach nicht seiner Vergangenheit entkommen. Er wurde verhaftet, musste gemeinnützige Arbeit leisten und war jetzt polizeilich registriert. Er wurde zunehmend unberechenbar, seine Familie kam nicht mehr klar mit ihm.

Junge somalische Migranten in Großbritannien sind auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter weitgehend auf sich gestellt; viele wachsen ohne Vater auf. Somalische Männer gelten schnell als ehrlos, wenn sie ihre Familie nicht ernähren können. Junge Männer, die mit traumatischen Erinnerungen aus ihrer Kindheit kämpfen, finden keine Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Um mit dieser Leere fertig zu werden, geben sie sich einem übertrieben männlichen Verhalten hin und huldigen einem Gangster-Rap, der ihren Eltern fremd ist und dazu dient, die Kluft zwischen den Generationen zu vertiefen.

Hinzu kommt, dass viele junge Somalier die Schule ohne Abschluss verlassen und keine Arbeit finden. Die Jugendarbeitslosigkeit in Großbritannien ist unter der schwarzen Minderheit viel höher als unter der weißen Mehrheit. Viele Somalier fühlen sich doppelt diskriminiert: als Schwarze und als Muslime. Ihnen scheint kollektiv ein schlechter Ruf vorauszueilen.

Nur irgendwie die nächste Nacht überleben

Allerdings haben sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in Großbritannien seit den 1970er Jahren deutlich verbessert; das Land ist heute wesentlich toleranter als früher. Wer das nicht glaubt, der frage die Somalier, die aus den Niederlanden nach Großbritannien übergesiedelt sind: Rund 20.000 sind in den vergangenen gut zehn Jahren von dort gekommen. Als Grund geben sie häufig an, die britische Gesellschaft sei gegenüber Einwanderern toleranter und offener als die niederländische. Dennoch: Auch hierzulande gibt es weiterhin Rassismus, den junge Somalier als Feindseligkeit empfinden und der maßgeblich beeinflusst, wie gut sie sich in Großbritannien zurechtfinden.

Die Kriminologin Neena Samota sagt, junge Somalier stünden pauschal unter Verdacht, würden häufig vorschnell als kriminell eingestuft und seien „überrepräsentiert“ im britischen Strafjustizsystem. Was kann dagegen getan werden? Auf einer Konferenz des Londoner Rates Somalischer Organisationen vor kurzem sagte ein junger Mann, es müssten Vorbilder geschaffen werden, ein zweiter sagte, mehr soziale Gerechtigkeit sei nötig, und ein dritter meinte, junge Somalier seien allein verantwortlich für ihre Taten. Der Sprecher einer Londoner Regierungsbehörde sagte, es gehe um Eingliederung in die britische Gesellschaft, ein anderer meinte, die Somalier müssten zusehen, dass sie von den politischen Parteien wahrgenommen werden. Und der Direktor des Londoner Rates erklärte, die somalischen Organisationen müssten gemeinsam an diesen Zielen arbeiten.

Fragt man junge Männer wie Tawfik, was sich ihrer Ansicht nach ändern müsste, lautet die Antwort sehr oft: Die meisten jungen Somalier seien viel zu sehr damit beschäftigt, die nächste Nacht zu überleben, um sich Gedanken über das Morgen zu machen.

Aus dem Englischen von Tillmann  Elliesen

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erschienen in Ausgabe 11 / 2013: Kriminalität
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