Tadschikistan ist eines der ärmsten Länder der Erde. Noch heute sind die Nachwirkungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs Anfang der 1990er Jahre spürbar. Als sich Tadschikistan 1991 für unabhängig erklärte, fielen die sowjetischen Subventionen weg, der Staatshaushalt halbierte sich. Der Bürgerkrieg von 1992 bis 1997 kostete dann über 100.000 Todesopfer und richtete erhebliche Schäden an der Infrastruktur an. Das wirkt noch immer nach; die wirtschaftliche Entwicklung kommt nur langsam voran, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den letzten Jahren gewachsen ist. Die Industrie liegt heute mit einem Anteil von 22 Prozent am BIP immer noch unter dem Stand der 1980er Jahre und beschäftigt lediglich fünf Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung.
Autor
Frank Bliss
ist Professor für Ethnologie (Schwerpunkt Entwicklungsethnologie) an der Universität Hamburg und Senior Research Fellow am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen. Der Artikel beruht auf einer Studie für das INEF.Wie viele Einwohner Tadschikistans in Armut leben, ist umstritten. Offiziellen Zahlen zufolge liegt die Armutsquote unter 50 Prozent, rund 20 Prozent gelten als extrem arm, das heißt sie haben weniger als 1,25 Dollar pro Kopf und Tag zur Verfügung. Entwicklungsorganisationen schätzen diese Zahlen jedoch als zu niedrig ein und gehen davon aus, dass rund 70 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen sind und 30 Prozent in extremer Armut leben. Zwar beträgt die Alphabetisierungsrate dank der sozialistischen Vergangenheit über 95 Prozent. Aber die Qualität des Bildungssystems sowie die Einschulungsraten, insbesondere von Mädchen, haben abgenommen. Auf dem Human Development Index des UN-Entwicklungsprogramms UNDP liegt Tadschikistan mit einem Wert von 0,622 nur auf Rang 125 von 186 Ländern – zwischen Kirgistan und Vietnam – und damit in der Gruppe der „Länder mit mittlerer Entwicklung“. Ginge es nur nach dem BIP pro Kopf, dann würde Tadschikistan 19 Plätze weiter unten eingeordnet und damit in die Gruppe der ärmsten Länder der Welt.
Besonders von Armut betroffen sind die ländliche Bevölkerung, Rentner, Haushalte von alleinerziehenden Müttern sowie junge Familien mit vielen Kindern. In der Stadt trifft Armut vor allem alte Menschen. Die Rentner, die während der Sowjetzeit finanziell relativ gut abgesichert waren und viele soziale Privilegien genossen, stürzten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 praktisch ins Nichts. Zwar wurden vielen von ihnen wie allen anderen Mietern ihre staatlichen Wohnungen bei der Privatisierung bereits in den 1990er Jahren übergeben, so dass sie keine Miete mehr zahlen müssen. Aber mit Renten von zehn Dollar im Monat konnte nicht einmal das Lebensnotwendigste gekauft werden. Trotz starken Erhöhungen betragen die Renten auch heute weniger als 50 Dollar.
Zwar gibt es eine staatliche Sozialhilfe, wegen der geringen Höhe und der Beschränkung auf wenige Sonderfälle profitiert davon aber kaum jemand
Auf dem Land hat die Armut ihre Ursachen in der Auflösung der Staatsfarmen. Bis 1991 arbeitete fast die gesamte ländliche Bevölkerung auf diesen sogenannten Sowchosen. Sie garantierten den Angestellten nicht nur Lohn und Arbeit, sondern auch Kindergärten, Gesundheitsfürsorge, Behinderten- und Altenbetreuung, Trinkwasser, die im kontinentalen Klima besonders wichtige Heizenergie und sogar öffentliche Badehäuser. 1991 stellten die Staatsbetriebe alle Gehaltszahlungen ein und verteilten nur noch eine Zeit lang die selbst produzierten Nahrungsmittel. Chancen zu privater Lohnarbeit gab es nur sehr selten. Den meisten Familien blieb praktisch nur der Ertrag ihrer Hausgärten, die selten größer waren als tausend Quadratmeter, und etwas Kleinhandel. Durch den Bürgerkrieg von 1992 bis 1997 verschlechterte sich die Lage zunächst dramatisch, landesweit herrschte ein Mangel an Nahrungsmitteln, und Zehntausende Familien befanden sich auf der Flucht.
Erst die Heimatüberweisungen von immer mehr Arbeitsmigranten brachten eine Verbesserung der Lebensumstände im ländlichen Raum. Seit Beginn der 2000er Jahre stieg die Zahl der fast ausschließlich männlichen Wanderarbeiter, die meist auf Baustellen in Russland Arbeit fanden. Da sie bis 2005 nur illegal arbeiten konnten und der Geldtransfer behindert wurde, erreichten im Durchschnitt nur rund 50 Dollar im Monat die Familien in der Heimat. Mit der Legalisierung der Arbeitsmigration in Russland seit 2005 und dem zunehmend freien Bankverkehr stiegen die Überweisungen bis heute im Schnitt auf umgerechnet monatlich 100 bis 200 US-Dollar pro in Tadschikistan zurückgelassene Familie an – zumindest während der sieben bis acht Monate im Jahr, in denen es auf den russischen Baustellen Arbeit gibt.
Doch auch 200 Dollar aus Heimatüberweisungen plus vielleicht 100 Dollar aus landwirtschaftlicher Eigenproduktion ergeben für eine fünfköpfige Familie gerade einmal zwei Dollar pro Kopf und Tag und ein Leben hart an der Armutsgrenze. Nur etwa einem Drittel aller ländlichen Familien geht es besser. Sie haben ein Mitglied mit fester Beschäftigung eine kleine eigene Landwirtschaft über die Hausgärten hinaus oder ein privates Unternehmen. Allerdings sind die meisten Angestellten auf dem Land als Lehrer oder im Gesundheitswesen tätig, die mit weniger als 50 Dollar bis zu höchstens 100 Dollar im Monat weiterhin extrem schlecht bezahlt werden.
Zwar gibt es in Tadschikistan eine staatliche Sozialhilfe, wegen der geringen Höhe und der Beschränkung auf wenige Sonderfälle profitiert davon aber kaum jemand. Sozialhilfeberechtigt sind lediglich 25 Gruppen von Empfängern, bei denen, ganz in sowjetischer Tradition, die „Helden der Sowjetunion“ und „Helden der Arbeit“ sowie Kriegsveteranen an der Spitze stehen. Seit Verabschiedung des Nachbarschafts- oder Mahalla-Gesetzes (2008) wird die Sozialhilfe zunehmend den Stadtteil- und Dorfkomitees (Mahallas) überlassen. Mit internationalen Gebern vereinbarte Kompensationsprogramme, die Preissteigerungen etwa im Energiesektor auffangen sollen, sind finanziell unzureichend ausgestattet und wurden in den vergangenen Jahren aufgrund von Behördenwillkür wenig transparent umgesetzt.
Welche Rolle spielen Gruppen aus der Zivilgesellschaft in Entwicklungsplanung und Armutsbekämpfung? Fachleute blicken hier fast nur auf nichtstaatliche Organisationen (NGOs) im Entwicklungssektor, sogenannte Entwicklungs-NGOs. Sie machen indes nur einen kleinen Teil der Zivilgesellschaft aus; die eigentlichen Mitgliederorganisationen sind etwa Gewerkschaften, Unternehmer- und Bauernverbände, Frauen-, Jugend- und Altenorganisationen und Berufsverbände. Unter den Entwicklungs-NGOs in Tadschikistan gibt es dagegen kaum Organisationen mit mehr als einer Handvoll Mitglieder und mit einer zumindest teilweisen Eigenfinanzierung. Fast alle diese NGOs sind geberfinanziert; viele wurden von internationalen Gebern selbst gegründet oder auch, neuerdings, von einflussreichen Angehörigen der sozialen Eliten oder Regierungsvertretern. Sie verfolgen überwiegend den Zweck, entwicklungsbezogene Aufträge auszuführen und ihren Mitgliedern zu Einkommen zu verhelfen. Einige der wichtigsten Entwicklungs-NGOs stehen der Regierung sehr nahe, Vertreter der Organisationen sind teilweise auch als Präsidentenberater oder als Mitglied hochrangiger nationaler Komitees tätig. Dass der Bauernverband im Landwirtschaftsministerium sein Büro hat, ist angeblich jedoch reiner Zufall.
Obwohl Tadschikistan zum islamischen Kulturraum gehört, ist nur wenig über zivilgesellschaftliche Organisationen mit islamischer Orientierung bekannt
Auch Advocacy- oder Lobby-Strukturen sind in Tadschikistan schwach ausgebildet und von Gebern abhängig. Relativ eigenständig sind einige von Akademikerinnen getragene Organisationen, die sich für Frauenrechte einsetzen, wie die „Association for Gender equality and against violence“ oder die „League of Women Lawyers“. Die ehemals sehr engagierte nationale Vereinigung von Unternehmerinnen kann dagegen kaum noch als Lobby-Organisation gelten: Wie viele andere wurde die Organisation in den letzten zehn Jahren mit Gebergeldern überschwemmt und ist heute mehr mit der Umsetzung von bezahlten Aufträgen beschäftigt als mit dem Einsatz für die Stärkung der Frauen in Tadschikistans Wirtschaft.
Aktiv sind in der Zivilgesellschaft vor allem die vielen Basisorganisationen (Community Based Organizations, CBO). Sie treten zwar einerseits als Implementierungspartner von Geberorganisationen und NGOs auf – viele wurden zu diesem Zweck erst als lokale Auftragnehmer von Gebern gegründet. Doch andererseits spielen eine Reihe von CBOs wie Mahalla-Komitees, informelle Arbeitsgruppen, Räte oder Zusammenschlüsse auf Dorf- und Stadtteilebene eine wichtige unabhängige Rolle in lokalen Angelegenheiten. Auf dieser Ebene werden zunehmend unabhängig von ausländischen Gebern Eigenmittel gesammelt und etwa in der stark von Versalzung bedrohten Chatlon-Provinz für die Instandhaltung von Entwässerungsgräben eingesetzt. In der Provinz Gharm haben andere Basisorganisationen Geld für die Reparatur eines Krankenhauses gesammelt. Auch Arme, Waisen oder alte Menschen werden an manchen Orten von CBOs oder Mahalla-Komitees finanziell unterstützt – immer verbunden mit der Gefahr, dass sich der Staat hier ganz aus seiner Verantwortung stiehlt.
Obwohl Tadschikistan zum islamischen Kulturraum gehört und in Teilen der Bevölkerung eine Re-Islamisierung mit teilweise salafistischer Ausrichtung zu beobachten ist, ist nur wenig über zivilgesellschaftliche Organisationen mit islamischer Orientierung bekannt. Im Umfeld von registrierten legalen (wie auch illegalen, aber staatlich tolerierten) Moscheen leisten einige Vereinigungen offiziell soziale Dienste. Eine Gruppe in Khudjand etwa besteht aus wohlhabenden Geschäftsleuten, die Geld im Sinne der islamischen „zakat“, der verpflichtenden Armenspende, aufbringen und an Bedürftige im Umfeld ihrer Moschee verteilen. Die Gruppe hat keine Rechtsform. Als soziale Hilfsorganisation könnte sie sich zwar staatlich registrieren lassen, anders als in Europa gibt es in Tadschikistan jedoch keine Steuerbegünstigungen für Vereine und Spender. Zudem würde es die Staatssicherheit auf den Plan bringen.
Die beobachtet islamische Vereinigungen generell mit Argwohn – teilweise mit Grund, weil es auch radikalere salafistische Gruppierungen und Organisationen gibt, die den terrorerprobten usbekischen Islamisten nahe stehen und verstärkt unter Jugendlichen Anhänger werben. Umso mehr müssten jedoch ausländische Regierungen und die Entwicklungsagenturen die Zusammenarbeit mit gemäßigten religiösen Vereinigungen suchen, weil diese über gesellschaftliche Legitimität verfügen und eigenständige Sozialarbeit leisten.
Die weitere Entwicklung der tadschikischen Zivilgesellschaft und ihre Rolle bei der Armutsbekämpfung hängen davon ab, ob es gelingt, ihre Tätigkeit von ausländischen Gebern und ausländischer Finanzierung unabhängig zu machen. Die bestehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen, vor allem jene, die für Demokratisierung und sozio-ökonomischen Ausgleich eintreten, dürfen nicht länger vom tadschikischen Staat und der internationalen Gebergemeinschaft für die Umsetzung von Entwicklungsmaßnahmen missbraucht werden. Stattdessen sollten sie gezielt in ihrer Rolle als Interessenvertreter unterstützt werden. Kriterien wie Legitimität, Repräsentativität und die Bereitschaft, Eigenmittel zu generieren, sollten als Maßstab für die Auswahl förderwürdiger Organisationen gelten.
Neuen Kommentar hinzufügen