(4. Juli 2013) Für eine erfreuliche Nachricht sorgte vergangenen Herbst die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO: Sie habe die Zahl der Menschen, die chronisch Hunger leiden, überschätzt und die Fortschritte im Kampf gegen den Hunger unterschätzt. Zweifel an diesen Zahlen und, mehr noch, an den Schlussfolgerungen der FAO äußert eine Gruppe von Fachleuten aus Nordamerika in einem Diskussionspapier.
Die FAO legt jährlich Schätzungen vor, wie viele Menschen chronisch Hunger leiden, das heißt ihren Mindestbedarf an Kalorien längere Zeit nicht decken können. Die Zahlen werden weithin zitiert, obwohl sie problematisch und unsicher sind. Die FAO hat deshalb ihre Methode überprüft und im Bericht über Ernährungs-Unsicherheit, kurz SOFI, von 2012 revidierte Zahlen vorgelegt. Die zeigen unter anderem, dass nicht wie bisher angenommen rund eine Milliarde Menschen chronisch hungern, sondern „nur“ etwa 870 Millionen.
Zahl der Hungernden als Bandbreite angeben
Diesen Bericht halten die amerikanischen Experten für problematisch – auch wenn sie ausdrücklich den Versuch der FAO würdigen, zu verlässlicheren Zahlen zu kommen. Die Organisation lege jedoch unrealistisch niedrige Annahmen darüber zugrunde, wie viele Kalorien arbeitende Menschen mindestens brauchen. Nach weniger strengen Kriterien wären laut FAO mehr als 1,3 Milliarden Menschen „unzureichend ernährt“. Die Experten raten, die Zahl der Hungernden als Bandbreite zwischen der niedrigen und der hohen Zahl anzugeben.
Mehr noch stören sie sich an der Darstellung und Interpretation der Zahlen. Zum einen erwecke der FAO-Bericht den Eindruck, die Wirtschaftskrise seit 2008 habe zwar den Rückgang des Hungers gebremst, aber nicht die Zahl der Hungernden erhöht. Dabei erfasst die FAO – wie sie im Kleingedruckten einräumt – gar nicht, wenn Menschen kurzfristig aus Geldmangel ihre Ernährung einschränken. Sie mache auch nicht deutlich, dass ein Großteil der Fortschritte seit 1990 zwei Ländern, China und Vietnam, zu verdanken ist.
Die FAO verleitet zu falschen Schlüssen
Die großen Unterschiede zwischen verschiedenen afrikanischen Ländern würden ebenfalls vernachlässigt; dass in Afrika die Zahl der Hungernden gestiegen ist, liege an wenigen Ländern, vor allem der Demokratischen Republik Kongo. Schlussfolgerungen, was bei der Bekämpfung des Hungers hilft, ließen sich aber nur aus dem Vergleich verschiedener Fälle ziehen, für den die Statistiken der FAO Material bereitstellen.
Die FAO verleite zu falschen Schlüssen. Am meisten stören sich die amerikanischen Experten an der Botschaft, die schon im Untertitel ihres Berichts steht: Wirtschaftswachstum ist nötig, aber nicht ausreichend zur Hungerbekämpfung. Zwar weise die FAO darauf hin, dass Wachstum „inklusiv“ sein solle und Sozialpolitik hinzukommen müsse. Aber der eilige Leser nehme als Hauptbotschaft mit, die Rückkehr zum Wirtschaftswachstum der Jahre vor 2008 sei das Entscheidende.
Soziale Sicherung trägt maßgeblich zur Reduzierung des Hungers bei
Das wäre laut den Kritikern falsch. Einige Länder, die den Anteil der Hungernden an ihrer Bevölkerung besonders schnell verringert haben, hätten dies bei unterdurchschnittlichem Wirtschaftswachstum geschafft, darunter Ghana, Indonesien und Brasilien. Dafür seien nicht nur soziale Sicherungsnetze wichtig gewesen, sondern in Fällen wie Ghana auch Agrargenossenschaften und eine einigermaßen gleichmäßige Landverteilung (was allerdings für Brasilien nicht stimmt).
Landreformen aber blende die FAO aus. Das Wirtschaftswachstum, das vor 2008 zu verzeichnen war, sei zudem in vielen Ländern mit größerer Ungleichheit, Landaufkäufen, Agrarspekulation und Bodendegradation einhergegangen. Das alles fördere den Hunger, statt ihn zu verringern.
Auch das Gewicht, das die FAO auf die Ausweitung der Agrarproduktion legt, finden die Kritiker nicht gerechtfertigt. Denn dass die neuen Hungerzahlen niedriger sind als die alten, liegt in erster Linie an der neuen Schätzung zu Nahrungsverlusten nach der Ernte. Das veranlasst die Fachleute zu der Frage: Wenn dies nach den Berechnungen der FAO der größte Faktor ist, warum stellt sie dann nicht die Verringerung der Verluste ins Zentrum des Berichts statt eines – wenn auch mit Adjektiven versehenen – Wirtschaftswachstums? (bl)
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