An zwei Abenden in der Woche, wenn sich nach einer kurzen Dämmerung die Nacht über San Salvador legt, wird die Tischtennisplatte auf der Terrasse zum Konferenztisch. Dann drängen sich 18 Journalistinnen und Journalisten und zwei Fotografen um den Ort, der sonst der sportlichen Entspannung dient. Sie diskutieren über die Geschichten, die in den vergangenen Tagen auf der Seite von „El Faro“ veröffentlicht worden sind. Einer hat sein Laptop auf den Knien und liest noch schnell den Beitrag, um den es gerade geht: Bei einem Brand im Gefängnis von Comayagua im benachbarten Honduras sind 361 Häftlinge zu Tode gekommen.
Chefredakteur Carlos Dada lobt den Text. „Das ganze Hintergrundmaterial hatten wir schon in der Schublade“, sagt er. „Wir haben davon profitiert, dass wir schon vorher in den Gefängnissen von Honduras recherchiert hatten.“ Seit mehr als einem Jahr läuft in der Internet-Zeitung aus El Salvador eine Serie mit Hintergründen über das organisierte Verbrechen in Zentralamerika: Wer kontrolliert den Drogenhandel in der Region, was haben die „Maras“ genannten Jugendbanden damit zu tun, warum versagen die Regierungen bei der Bekämpfung von Kriminalität und Gewalt? Besuche bei inhaftierten Straftätern gehörten mit zur Recherche.
Autorin
Am 15. Mai 1998 ging El Faro online. Die beiden Gründer waren sich nicht einmal bewusst, dass sie die erste rein digitale Zeitung Lateinamerikas ins Netz gestellt hatten; das erfuhren sie erst später. Damals begannen die ersten Zeitungen aus Papier vorsichtig, einzelne Artikel im Internet zu veröffentlichen. Die Suchmaschine Google war noch nicht erfunden. Nur wenige Privilegierte hatten Zugang zum Internet. In El Salvador waren nur zwei Prozent der Bevölkerung online. Die Journalisten sahen die digitale Welt nicht als ihre Zukunft, sondern als ein Problem.
Bekenntnis zur freien Meinung
„Wir waren damals keine Visionäre oder Avantgardisten“, sagt Dada. „Wir sind im Internet geboren, weil wir arm waren.“ Er, der Journalist, und Jorge Simán, der hauptberuflich eine kleine Dienstleistungsfirma rund um Computer betreibt, investierten 1000 US-Dollar. Damit registrierten sie ihre Firma, kauften die Domaine und bastelten die ersten Seiten. Ihr Ziel: Eine andere Zeitung als die, die es in El Salvador schon gab – Blätter, die der damaligen rechten Regierung nach dem Mund redeten und nichts veröffentlichten, was ihren Anzeigenkunden missfallen könnte. „Wir sind allein einem professionellen Journalismus verpflichtet, ethisch und voll Qualität“, schrieben sie in ihrem ersten Editorial. „Heute beginnen wir im Internet, aber irgendwann wird es uns auch auf Papier geben. Versprochen.“
Am Anfang war „El Faro“ eher eine Meinungsplattform. Die beiden Gründer hatten kein Geld, um Journalisten unter Vertrag zu nehmen. Sie versammelten ein paar Intellektuelle, die Meinungsbeiträge schrieben, und veröffentlichten dazu immer montags eine Zusammenfassung der Nachrichten der vergangenen Woche. Der Name El Faro (der Leuchtturm) war die Idee eines der ersten Kolumnisten. Er meinte, in der noch weitgehend unbekannten Welt des Internets brauche es ein Richtung gebendes Leitfeuer.
Erst als „El Faro“ zwei Jahre im Netz war, verfassten die ersten Journalisten Berichte, Reportagen und Interviews. Es waren Studenten, die ohne Bezahlung und angeleitet von Carlos Dada ihre ersten Fingerübungen machten. Bei „El Faro“ konnten sie Geschichten veröffentlichten, für die sie in den traditionellen Zeitungen nie Platz bekommen hätten. Geschrieben wurde fast nur in der Nacht. Am Tag arbeitete Dada damals noch als Auslandschef von „La Prensa Gráfica“, der größten Tageszeitung des Landes.
Von den anderen Medien wurde „El Faro“ damals im besten Fall belächelt, meist aber einfach ignoriert. Bis 2003. Da gelang der kleinen Internetzeitung der erste Coup. Mauricio Funes, der Starjournalist des salvadorianischen Fernsehens, gab in einem Interview mit ihr zu, dass er gerne Präsidentschaftskandidat der linken FMLN werden würde. Das klappte damals dann nicht: Die Parteiführung wollte Funes für die Wahl 2004 nicht haben. Erst nach einer weiteren Niederlage zog sie 2009 mit dem Journalisten als Kandidat ins Rennen. Heute ist Funes Präsident von El Salvador. Damals dachte er wohl, er könne „El Faro“ seine Ambitionen ruhig beichten, weil die Zeitung ohnehin von niemandem gelesen würde. „Tatsächlich waren unsere Leser damals vor allem Salvadorianer im Ausland“, erinnert sich Sergio Arauz, ein Reporter der ersten Stunde, der im Jahr 2000 als unbezahlter Volontär bei „El Faro“ begann. „Wir hatten ziemliche Probleme, wenn wir einen Politiker um ein Interview baten. Die meisten kannten uns nicht.“
Obwohl das Geld immer knapp war, wollten Dada und Simán auf eigenen Füßen stehen. Die Hilfe internationaler Entwicklungsorganisationen lehnten sie ab. Denn die hatte sich schon einmal als Sackgasse erwiesen: Gleich nach dem Bürgerkrieg hatte eine Gruppe von Journalisten 1993 mit internationalen Hilfsgeldern die Wochenzeitung „Primera Plana“ gegründet. Sie starteten mit einer voll ausgestatteten und gut bezahlten Redaktion – und waren nach weniger als einem Jahr pleite, weil kein Geld mehr aus dem Ausland kam. „Wir wollten sicher sein, dass unser Ding länger dauert als acht Monate“, sagt Simán. „Also haben wir lieber klein angefangen und sind auch lange klein geblieben.“
Die fixe Idee mit dem Papier
2003 entschieden sie sich dann doch für eine Teilfinanzierung aus dem Ausland. Im Auftrag der staatlichen dänischen Entwicklungszusammenarbeit und des UN-Büros in El Salvador begleiteten sie die Präsidentschaftswahl von 2004 mit ausführlichen Berichten und Hintergrundartikeln. Das Geld reichte aus, um vier Journalisten zu bezahlen und ein kleines Büro zu mieten. Vorher hatte sich die Redaktion immer bei Dada oder Simán zu Hause getroffen.
Aus dieser Zusammenarbeit entstand ein neues Finanzierungsmodell: „El Faro“ arbeitet seither in klar umrissenen Einzelprojekten mit internationalen Organisationen zusammen. Die tägliche Berichterstattung bestritten zunächst weiter unbezahlte Studenten. Dada kündigte seinen Job bei „La Prensa Gráfica“, um Zeit und einen freien Kopf für die Weiterentwicklung des Projekts zu haben. Er träumte immer noch von einer Zeitung auf Papier. So lange, bis eine Stiftung aus den USA „El Faro“ eine Marktstudie schenkte. „Das Ergebnis war eindeutig“, erinnert sich Dada. „Der salvadorianische Markt sei zu klein für ein Printmedium wie El Faro. Am ehesten habe ein Sensationsblatt eine Chance.“ Dada lacht. „Wir haben nicht einmal darüber nachgedacht.“ Sein Partner Simán klingt noch heute fast erleichtert: „Die Studie hat uns von der fixen Idee mit dem Papier befreit.“
Das Team machte sich daran, das Internet-Angebot zu erweitern. Neben Nachrichten und Meinung wurden Ressorts für Kultur, Interviews und Humor eingerichtet. Dazu kamen Recherche- und Reportage-Projekte zu spezifischen Themen, die von internationalen Organisationen unterstützt wurden. 2008 und 2009 etwa finanzierte die Soros-Stiftung Reportagen und Hintergründe zur illegalen Migration an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. „El Faro“ berichtete schon damals über Massenentführungen von Migranten durch das Drogenkartell der Zetas. International bekannt wurden diese Zustände erst im August 2010, als im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas nahe der Grenze auf einer Farm 72 von den Zetas ermordete Migranten gefunden wurden. Oscar Martínez, der für „El Faro“ schon vorher in dieser Gegend recherchiert hatte, wurde plötzlich zum gefragten Experten in mexikanischen Medien. Inzwischen hat er Mexiko aus Sicherheitsgründen verlassen.
Exklusive Themen reichten nicht aus, um „El Faro“ bekannt zu machen. Doch gleichzeitig mit den journalistischen Erfolgen wuchs in El Salvador die Zahl der Internet-Nutzer. Heute haben 13 Prozent der Bevölkerung regelmäßigen Zugang, sei es zu Hause, im Büro oder in Internet-Cafés. Die Zahl der Besucher von El Faro wuchs von 127.609 im Jahr 2006 auf knapp 1,4 Millionen 2011, die Zahl der angeklickten Seiten von knapp 600.000 auf fast zehn Millionen im Jahr. Die Leser stammen laut einer Studie vorwiegend aus der gut ausgebildeten Mittelschicht – einer Gruppe, die für die Werbewirtschaft besonders interessant ist. „El Faro“ deckt inzwischen die Hälfte seiner Ausgaben mit Werbeeinnahmen und bezahlt seinen Reportern sogar etwas mehr als die anderen Medien des Landes.
Brisante Infos hat „El Faro“ zuerst
Ein typisches Nachrichtenportal, das die Geschwindigkeit des Internets nutzt, ist „El Faro“ nicht geworden. Redaktionskonferenzen finden nur zwei Mal in der Woche statt, die Aktualität spielt eine eher untergeordnete Rolle. Ausführlich recherchierte Hintergrundtexte über wichtige politische Entscheidungen oder Fälle von Korruption und Straffreiheit sowie Multimedia-Produktionen sind heute das Markenzeichen. „Die großen Medien des Landes schrecken immer noch davor zurück, Nachrichten zu veröffentlichen, die den wirtschaftlich und politisch Mächtigen missfallen könnten“, sagt Nachrichtenchef Ricardo Vaquerano. „Wir nicht.“ Aus dieser Haltung sei inzwischen ein Selbstläufer geworden: Wenn jemand in El Salvador brisante Informationen hat, geht er damit zuerst zu „El Faro“.
Einer der größten Coups gelang der Internetzeitung am 22. März 2010, zwei Tage vor dem 30. Jahrestag des Mordes an Oscar Arnulfo Romero, dem Erzbischof von San Salvador. Diese Bluttat war der letzte Auslöser eines zwölfjährigen blutigen Bürgerkriegs. Nach Hinweisen und dreijährigen Recherchen gelang es Carlos Dada, Álvaro Saravia ausfindig zu machen, ein Mitglied der für den Mord verantwortlichen Todesschwadron. Nach langem Zögern war der seit diesem Mord versteckt lebende ehemalige Militär zu einem Interview bereit – und enthüllte Einzelheiten, die vorher von der Regierung stets abgestritten worden waren: Dass es Roberto D’Aubuisson war, der Gründer der langjährigen rechten Regierungspartei Arena, der den Bischofsmord geplant hatte. Und dass ein Sohn des ehemaligen Präsidenten Arturo Armando Molina den Scharfschützen besorgt hatte, der Bischof Romero beim Zelebrieren einer Messe mit einem einzigen Schuss getötet hat. An dem Tag, an dem das Gespräch veröffentlicht wurde, brach die Seite von „El Faro“ unter dem Andrang der Besucher zusammen. Der Text wurde von mehr als 50 Medien weltweit übernommen und in mehrere Sprachen übersetzt.
Weil „El Faro“ nie mit Kritik an den Arena-Regierungen sparte, galt die Zeitung immer als links. „Erst als 2009 die Linke an die Regierung kam, konnten wir beweisen, dass wir tatsächlich unabhängig sind“, sagt Dada. „Früher sagte die Rechte über uns, wir seien Kommunisten und heute sagt die Linke, wir seien Arena-nahe.“
International ist die Arbeit von El Faro längst anerkannt. Allein im vergangenen Jahr wurde das Internet-Medium mit zwei renommierten Preisen ausgezeichnet: mit dem von der Columbia-Universität in New York vergebenen Maria-Moors-Cabot-Preis, einem der wichtigsten auf dem amerikanischen Kontinent, und mit dem Ortega-y-Gasset-Preis, der von dem spanischen Weltblatt „El País“ vergeben wird. Auch Nachahmer gibt es bereits. Nach dem salvadorianischen Vorbild hat die Landívar-Universität im benachbarten Guatemala die Plattform „Plaza Pública“ geschaffen. Wie „El Faro“ ist sie auf kritische Hintergrundberichterstattung spezialisiert arbeitet mit einem Wirtschaftsmodell aus Werbeeinnahmen und international finanzierten Projekten.
Nur unternehmerisch gesehen ist „El Faro“ keine Erfolgsgeschichte. „Die Finanzen sind nach wie vor unsere schwache Seite“, räumt Simán ein. Es reicht gerade, 20 Journalisten mit Mühe und Not zu bezahlen. Gewinne gibt es nicht. Aber es lohnt sich. „Selbst wenn wir morgen sterben würden – was sicher nicht passieren wird: Ich glaube, dass wir unseren Platz in der Geschichte des Journalismus in Zentralamerika gewonnen haben“, sagt Dada.
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