Kampf dem Wohlstandsspeck

Zwei von fünf Brasilianern sind zu dick. Sie laufen damit ein hohes Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden oder an Diabetes zu erkranken. Das Gesundheitsministerium versucht mit Präventionsprogrammen gegenzusteuern, doch die Vorliebe für Fastfood und Frittiertes ist ungebrochen.

Eli ist 27 Jahre alt, hat zwei Töchter, lebt in Rio de Janeiro und arbeitet als Fußpflegerin. Ihre älteste Tochter ist zehn, die jüngere sieben Jahre alt. „Es ist nicht einfach zu kontrollieren, was die beiden den ganzen Tag essen, ich bin ja jeden Abend bis 20 Uhr hier im Salon“, sagt sie. „Aber mein Mann und ich versuchen darauf zu achten.“ Wie viele Brasilianer geht ihr Ehemann ins Fitnessstudio. Er achtet auf seine Figur. „Seitdem ist er etwas strenger damit, was bei uns auf den Tisch kommt“, sagt Eli. Vor einer Woche war sie mit ihrer jüngeren Tochter zur Routineuntersuchung beim Arzt. Cholesterin, Gewicht, Zucker – alles normal.

„In Brasilien weiß eigentlich jeder, dass es nicht gut ist, ungesund zu essen, Fastfood und Frittiertes. Aber die meisten tun es trotzdem“, sagt Eli. Eine Stadt oder ein Viertel gilt als entwickelt und als bessere Wohngegend, wenn es dort ein Fastfood-Restaurant gibt. In Elis Stadtteil Santa Cruz hat das gedauert. Erst vor einigen Jahren wurde dort die erste McDonalds-Filiale eröffnet.

Übergewicht oder „Obesidade“, wie die Brasilianer sagen, ist die am meisten verbreitete Zivilisationskrankheit des Landes. Mehr als 74 Millionen Menschen gelten in Brasilien als übergewichtig, das entspricht 40 Prozent der Bevölkerung. Zehn Millionen sind stark übergewichtig oder adipös. Übergewichtige haben ein erhöhtes Risiko, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu bekommen. Das Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) stellte 2011 in einer landesweiten Studie fest, dass bereits Kinder ab fünf Jahren mit ihrem Gewicht zu kämpfen haben.

Autorin

Solveig Flörke

ist Kulturwirtin und arbeitet als freie Autorin und Reporterin in Südamerika.

Die Zahl zu dicker Erwachsener ist in der Millionenmetropole São Paulo besonders schnell gestiegen – hier sind viele Menschen gut situiert, Fastfood-Restaurants und Supermärkte gibt es an jeder Ecke. Der Ernährungsforscher Durval Ribas Filho, Präsident der Brasilianischen Vereinigung für Ernährung (ABRAN), sieht aber noch einen anderen Grund: Das gesetzliche Verbot bestimmter Diätpillen im vergangenen Jahr. Vor allem Frauen versuchten vorher damit, ihr Gewicht zu reduzieren. Sie schluckten gefährliche Medikamenten-Cocktails, Mixturen aus Amphetaminen und ähnlichen Wirkstoffen, und nahmen dafür starke Nebenwirkungen wie Bluthochdruck, Kopfschmerzen und Lähmungserscheinungen in Kauf. Patrícia Medici Dualib von der Brasilianischen Gesellschaft für Endocrinologie und Metabologie (SBEM) macht für das Übergewicht hingegen den übermäßigen Konsum von Nahrungsmitteln wie Keksen, Chips, zuckerhaltigen Getränken und Fastfood verantwortlich. Hinzu komme eine „Stubenhocker-Mentalität, begründet durch die Angst vor urbaner Gewalt“. Außerdem fehlten Anreize, auch in den Schulen gesundes Essen auszuteilen oder zu verkaufen, kritisiert Dualib.

Nur einige Bundesstaaten wie Rio de Janeiro, Minas Gerais, Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul haben Gesetze, die den Verkauf bestimmter Nahrungsmittel in Schulen und Kindergärten regulieren. Ein nationales Gesetz gibt es nicht, dafür aber die beiden Programme „Gesundheit in der Schule“ und „Mehr Bildung“. Sie sehen unter anderem vor, jeden Schüler pro Woche mit 200 Gramm Früchten zu versorgen.

Immer wieder äußern Politiker neue Vorschläge, um die Brasilianer zu gesunder Ernährung anzuhalten. Senator Cristovam Buarque fordert etwa Verpackungen mit eindeutigem Farbschema, damit die unterschiedlichen Nahrungsmittel leicht identifizierbar werden. Ein anderer Vorschlag sieht vor, dass Kinder mit kleinen Geschenken für eine gesunde Ernährung belohnt werden sollen.

4000 neue Fitnessstudios sollen entstehen

Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten und chronische Atemwegserkrankungen sind in Brasilien inzwischen Ursache für die Hälfte aller Todesfälle. Bis 2030 wird der Anteil voraussichtlich bei 70 Prozent liegen. Die Regierung unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva reagierte auf diesen Trend und führte 2006 eine präventative Gesundheitspolitik ein. 1506 Stadtbezirke haben zwischen 2006 und 2010 umgerechnet 75 Millionen Euro vom Gesundheitsministerium für Projekte und Kampagnen erhalten.

So wurde ein Projekt mit dem Namen „Volksapotheke“ (Farmácia Popular) ins Leben gerufen. In über 2500 Städten können die Bluthochruck-Patienten in mehr als 15.000 Apotheken zu günstigen Konditionen ihre Medikamente abholen. Jeden Monat nutzen 1,3 Millionen Brasilianer die Volksapotheken. Unter den insgesamt 24 kostenlosen und stark reduzierten Medikamenten finden sich auch Präparate für Zuckerkranke, Asthmatiker, Parkinson-, Osteoporose- und Rheuma-Patienten. Auch die 42-jährige Ana da Silva holt ihr Insulin in einer „Farmácia Popular“ ab. „Ich muss lediglich meinen Ausweis, die Steuernummer und mein Rezept vorzeigen, dann bekomme ich mein Medikament“, sagt sie. „Außerdem soll ich viel spazieren gehen.“

Bewegungsmangel ist eine weitere Ursache für die Ausbreitung der Zivilisationskrankheiten in Brasilien und sie ist eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes verknüpft. Immer mehr Brasilianer arbeiten im Büro oder haben ähnliche Arbeitsplätze, an denen sie sich kaum bewegen müssen. Zum anderen sind Freizeiteinrichtungen wie Schwimmbäder, Sportanlagen und Ballsportplätze oft in privater Hand und kosten Eintritt. Hier soll ein Programm für mehr Bewegung Abhilfe schaffen, das seit 2011 existiert und die Einrichtung von kostenlosen Sport- und Bewegungsmöglichkeiten vorsieht. An einigen Stränden von Recife, Rio de Janeiro, aber auch im Süden Brasiliens stehen bereits Fitnessgeräte für Kraft-und Dehnübungen.

Mehr als 30 Millionen Brasilianer haben zu hohen Blutdruck

Außerdem will das Gesundheitsministerium den Bau von insgesamt 4000 Fitnessstudios unterstützen, die ebenfalls ohne Gebühr besucht werden können – allerdings nicht von jedem. Manche dieser Fitnessräume sind Teil einer „Klinik der Familie“: Das sind provisorisch eingerichtete Containerkrankenhäuser, die nur Patienten mit geringem Einkommen aufnehmen. Für ältere Menschen gibt es in den Städten Plätze mit fest installierten Schach-und Kartenspieltischen. „Diese Angebote werden vor allem von älteren Männern gerne genutzt“, sagt Deborah Malta, Koordinatoren beim Gesundheitsministerium.

Darüber hinaus sind spezielle Tage mit Fokus auf der jeweiligen Erkrankung ein beliebtes Mittel, um die Brasilianer wachzurütteln. Erst vor kurzem fand der „Tag der Bekämpfung und Prävention von Bluthochdruck“ statt, der seit 2002 gesetzlich verankert ist. Mehr als 30 Millionen der rund 200 Millionen Brasilianer haben zu hohen Blutdruck, und auf sämtlichen Kanälen wie Rundfunk, Internetplattformen, Facebook und Twitter wird über Symptome, Risiken und Vorbeugung informiert. Bekannte Vertreter von Politik, Sport und Kultur beteiligen sich an den Aktionen, leihen Foto- und Fernsehkampagnen ihr Gesicht.

Eine besondere Versorgung benötigt die Amazonas-Region: Die Siedlungen sind zum Teil sehr abgelegen und ohne ärztliche Betreuung. Auch hier nehmen die Zivilisationskrankheiten zu, beispielsweise Karies. Mit Hilfe des Programms „Brasil Sorridente“ („Strahlendes Lachen“) will die staatliche Krankenversicherung Sistema Único de Saúde (SUS) gegensteuern. So wird etwa dem städtischen Wasser der Amazonas-Stadt Manaus Fluor beigegeben. „Heute haben bereits mehr als die Hälfte aller Brasilianer Wasser mit Fluor, das soll der Karies vorbeugen, unser größtes Problem bei Mundkrankheiten“, erklärt Gilberto Pucca aus dem Gesundheitsministerium. Auch mobile Zahnarztpraxen auf Schiffen gehören zum Programm. Sie erreichen eine Bevölkerung, die sonst keinen Zugang zu Ärzten hätte. 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2013: Ungesunder Wohlstand
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