Rosario Lingán weiß seit langem, dass es um ihr Herz nicht zum Besten steht. Nun sei eine Operation am offenen Herzen unumgänglich, hat der Kardiologe der 61-jährigen Landwirtin aus dem nordperuanischen Pacasmayo eröffnet und sie auf den OP-Plan des staatlichen Herzzentrums Incor in der 800 Kilometer entfernten Hauptstadt Lima gesetzt. Zugleich bekam sie eine lange Liste mit Medikamenten, OP-Utensilien und Labor-Analysen, die sie für die Operation besorgen muss. Das ist in Peru ein gewöhnlicher Vorgang, der Familien ohne Krankenversicherung oft in den finanziellen Ruin treibt.
Auf Rosarios Liste steht auch ein Medikament, das in keiner Apotheke zu kaufen ist: fünf Einheiten Blut ihrer eigenen Blutgruppe. Samt der dazugehörigen Beutel. Ohne die kann sie nicht operiert werden. Rosario hat doppeltes Pech: Ihr Herz will nicht mehr richtig, und sie hat eine in Peru extrem seltene Blutgruppe. Als einzige in ihrer Familie ist ihr Rhesus-Faktor negativ. Für Rosario beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. In zwei Wochen soll der Eingriff erfolgen. Bis dahin muss sie fünf fremde Menschen dazu bringen, ihr Blut zu spenden.
Jeder, der schon einmal in einem peruanischen Krankenhaus oder in einer der großen Spezialkliniken der Hauptstadt Lima operiert wurde, kennt das: ohne Blutspender keine Operation. Haben die Patienten Familie in der Hauptstadt und eine weit verbreitete Blutgruppe, werden die Blutspender unter den jungen Verwandten oder in der Nachbarschaft rekrutiert. Patienten aus der Provinz oder mit einer seltenen Blutgruppe finden dagegen selten einen geeigneten Spender in ihrem Umfeld. Auf Reserven in den Blutbanken ist in Peru kaum Verlass. Nur fünf Prozent aller peruanischen Blutreserven stammen aus freiwilligen Blutspenden, also von Menschen, die für eine Blutbank spenden. 95 Prozent kommen von Nachschub-Spendern, sogenannten „Replacement-Donors“ – Spendern, die von den Patienten selbst aufgeboten werden.
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„Uns fehlt eine zentrale Blutbank“, sagt Doktor Jorge Manuel Leiva, der beim peruanischen Gesundheitsministerium für die Blutbanken der Krankenhäuser zuständig ist. Jedes Krankenhaus hat eine eigene und sorgt nur für den eigenen Nachschub, Blutreserven werden nicht untereinander ausgetauscht – außer in Notfällen. Gerade bei der flächendeckenden Versorgung mit Blut gilt aber eine zentralisierte Blutbank als wesentlich effizienter.
Zudem fehlt es an Solidarität, die Peruaner sind nicht gewohnt, für fremde Menschen Blut zu spenden. „Oft höre ich als Entschuldigung, dass die Leute lieber ihr Blut aufsparen, bis es jemand aus der Familie braucht“, sagt Leiva. Es gibt kaum öffentliche Kampagnen, die wenigsten kennen ihre Blutgruppe oder wissen, dass ein erwachsener Mensch alle drei bis vier Monate Blut spenden kann, ohne gesundheitlichen Schaden zu leiden.
Nicht überall in Lateinamerika sind die Blutbanken so schlecht bestückt wie in Peru. Nahezu die Hälfte aller lateinamerikanischen Blutkonserven stammen aus freiwilligen Spenden, sagt Doktor Maria Dolores Pérez-Rosales von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation, einer Untergruppe der Weltgesundheitsorganisation. Vor allem in ärmeren Ländern spenden viele Menschen Blut. Kuba und Surinam bestücken ihre Blutbanken ausschließlich mit freiwilligen Spenden und rufen bereits in den Schulen zum Blutspenden auf. Auch in den Andenländern Kolumbien (83 Prozent), Bolivien (35 Prozent) und Ecuador (50 Prozent) ist die Quote der freiwilligen Blutspender in den vergangenen Jahren gestiegen. In Nicaragua hat sich der Anteil der freiwilligen Spenden innerhalb von fünf Jahren von 25 auf 100 Prozent vervierfacht.
In all diesen Ländern hat der Staat in zentrale Blutbanken investiert und vermehrt Öffentlichkeitsarbeit außerhalb der großen Städte betrieben, oft in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz. „Mehr Spenden bekommt man nur, wenn die Ärzte auch in die Dörfer fahren und dort für Blutspenden werben“, sagt Pérez-Rosales. Eine hohe Quote an freiwilligen Spendern ist zugleich ein Indikator für die Qualität des Blutes. „Wer aus eigenen Stücken spendet, ist normalerweise in guter gesundheitlicher Verfassung“, erklärt Doktor Leiva vom Gesundheitsministerium.
Der Preis für den Mangel an Blutreserven ist hoch. Fast 30 Prozent aller Frauen, die bei der Geburt in Lateinamerika sterben, verbluten. In Peru gehen sogar 40 Prozent aller Komplikationen bei der Geburt auf Blutungen zurück. Oft sei der Grund aber auch, dass die Frauen auf dem Land zum Gebären nicht ins nächste Krankenhaus gehen, sondern sich lieber der Hebamme vor Ort anvertrauen, sagt Leiva. Das ist zwar näher und billiger, doch wenn die Geburt schwierig verläuft, kann sie wenig tun.
Es dauert eine Stunde, bis alle Formulare ausgefüllt sind
In Lima beginnt für Rosario Lingán die Jagd nach dem kostbaren Blut. Die Ehefrau eines Neffen ist Ärztin und kann ihr einen ersten Spender vermitteln. Glück hat Rosario auch mit dem „Club Rhnegativ“, der 6600 Adressen von rhesus-negativen Personen in Lima gesammelt hat. Gegen eine geringe Aufnahmegebühr bekommt sie drei davon. Die erste Person ist bereit, sich die Zeit zu nehmen und am nächsten Tag zur Blutprobe ins Herzzentrum zu kommen. Dort wartet Rosario auf den ihr unbekannten Spender, um ihn durch das Klinik-Dickicht zu lotsen und ihn so gut zu betreuen, dass er am nächsten Tag zur Spende wiederkommt.
Gut 60 Minuten dauert es, bis er alle Formulare ausgefüllt und eine Blutprobe dagelassen hat. Doch Rosario und ihr Spender müssen sich bis zum Abend gedulden, um zu erfahren, ob er alle Tests bestanden hat. Schließlich die Nachricht aus dem Krankenhaus: Der Spender nimmt ein Medikament ein, das keine Blutspende zulässt. Rosario muss sich erneut auf die Suche machen.
Doktor Leiva räumt ein, dass die Krankenhäuser es freiwilligen Spendern nicht leicht machen. Das fängt bei den eingeschränkten Öffnungszeiten an und reicht bis zum ungeschulten Personal, das die Spender schematisch nach allen möglichen Vorerkrankungen abfragt und nicht abwägt, welche Bedingungen für die Spende wirklich unerlässlich sind – auch aus Angst, für möglich Fehler haften zu müssen. Weil 95 Prozent der peruanischen Spender für Angehörige oder Freunde spenden, wehren sie sich nicht gegen diskriminierende Behandlungen oder bürokratische Schikanen. Freiwillige Spender sind im System noch nicht vorgesehen. Manchmal werden sie einfach zurückgeschickt, nur weil sie keinen Konserven-Beutel dabei haben.
Pedro Rojas, der Sekretär des Clubs der Rhesus-Negativen, kennt inzwischen alle Ausreden, warum jemand nicht spenden möchte. Wenn eine Anfrage für einen Notfall in sein Büro kommt, fängt er an, die 6600 Namen auf seiner Liste abzutelefonieren. „Viele haben keine Zeit, während ihrer Arbeitszeit in ein Krankenhaus am anderen Ende der Stadt zu fahren“, sagt Pedro Rojas. „Andere bilden sich ein, dass sie durch das Blutspenden entweder an Gewicht zunehmen oder Potenz verlieren.“ Auch die Angst, sich beim Blutspenden mit Aids oder anderen Krankheiten zu infizieren, sei weit verbreitet. Selbst untereinander sind die Clubmitglieder nicht unbedingt solidarisch. Von den Mitgliedern haben 800 Personen schon selbst gespendet, 600 davon ein einziges Mal. Nur 260 Personen spenden regelmäßig.
Dies deckt sich mit den Erfahrungen von Doktor Luis Enrique Argumanis von der Blutbank des peruanischen Krebszentrums. Wenn er die tausend Angestellten des Krankenhauses zum Blutspenden aufruft, kommen gerade mal 30 bis 40 Personen dem Aufruf nach. Nur bei Naturkatastrophen wie Erdbeben oder bei Notfällen von kranken Kindern steige die Zahl der freiwilligen Spender. Wenn der Staat für die Blutbanken keine effiziente Gesundheitspolitik betreibt, gelten für die Blutspende die gleichen Regeln wie im freien Spendenmarkt: Für Opfer von Naturkatastrophen und für Kinder ist es am einfachsten, Solidarität zu mobilisieren. Ältere Patienten, die wie Rosario Lingán für eine bereits festgesetzte Operation Blut auftreiben müssen, liegen auf der Skala der Spendersympathie dagegen ganz unten.
„Vampire“ verlangen bis zu 500 Dollar pro Bluteinheit
Manchmal bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auf illegale Blutverkäufer, die sogenannten „Vampire“ zurückzugreifen. Zwar ist der Verkauf von Blut in ganz Lateinamerika unter Strafe gestellt, aber die Nachfrage schafft den Markt. Für eine Einheit Rhesus-negatives Blut verlangen die „Vampire“ bis zu 500 US-Dollar. Man erkenne die „Vampire“ daran, dass sie bereits mit einer Zeitung zum Spenden kommen, erzählt Argumenis: „Wir schließen daraus, dass sie nicht zum ersten Mal da sind und wissen, dass sie lange warten müssen.“
Argumenis und Doktor Leiva vom Gesundheitsministerium setzen sich seit Jahren für eine zentrale peruanische Blutbank ein. Dies würde auch die Kosten für eine getestete Einheit Blut (450 Milliliter) von momentan 100 US-Dollar senken. Diese Kosten trägt in der Regel der Patient. Seit Jahren hängt das Projekt jedoch in der Bürokratie des Gesundheitsministeriums fest. Noch funktioniert das Nachschubsystem zu gut und Fälle wie Rosario Lingán und andere Rhesus-Negative sind zu wenige, um Politiker zu beeindrucken.
Der lebenswichtige OP-Termin rückt für Rosario Lingán immer näher. Mit Hilfe des Clubs der Rhesus-negativen und der Frau ihres Neffen hat sie schließlich fünf Spender gefunden, die der strengen Überprüfung des Krankenhauses standhalten – 15 Tage hat sie dafür gebraucht. Noch bangt sie, ob auch alle fünf am Tag vor der Operation zur Blutspende auftauchen werden. Rosarío verschickt fünf SMS: „Bitte vergesst eure Spende nicht.“
Die Autorin dieses Artikels erhält eine dieser SMS und wartet am nächsten Tag ungeduldig zwei Stunden, bis die Krankenhausbürokratie soweit ist, ihr das Blut abzunehmen. Sie versäumt dafür die Pressekonferenz des peruanischen Finanzministers, in dem er die neuesten Wachstumszahlen Perus bekannt gibt, die um einiges höher ausfallen als der Anteil freiwilliger Blutspender. Und erhält dafür eine weitere SMS von Rosario, am Vorabend ihrer Herzoperation: „Eternamente agradecida, dankbar für immer.“
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