Angesichts des Massenaufstands in Kairo, der Hosni Mubaraks Herrschaft ins Wanken gebracht hat, ziehen manche US-amerikanische Beobachter geradezu reflexhaft Parallelen zum Sturz des Schahs von Persien im Jahre 1979. So warnte Leslie Gelb, ein Publizist und Alterspräsident des einflussreichen außenpolitischen Think Tanks „Council on Foreign Relations“, vor einem zweiten Iran: Wenn die Muslimbruderschaft die Macht in Ägypten übernehme, was für Gelb in greifbare Nähe gerückt ist, „wird es für die Bevölkerung fast unmöglich sein, dies wieder rückgängig zu machen“.
Autor
Thomas Carothers
ist Vizepräsident für Forschung bei der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden und leitet dort die Programme zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie Carnegie Europa. Der Originaltext wurde erstmals am 2. Februar 2011 in „The New Republic“ veröffentlicht.Wenn in fernen Ländern unerwartete und bedeutende politische Veränderungen vorgehen, zieht man Parallelen, um die Orientierung nicht zu verlieren. Auch wenn man weiß, dass Vergleiche immer hinken, lässt man sich nur zu oft von ihnen verführen. Gerade deshalb ist dabei Sorgfalt geboten. Der Verweis auf den Iran schreckt auf, führt jedoch auf gefährliche Weise in die Irre. Ein anderer Vergleich liefert für Versuche, die Lage in Ägypten zu analysieren, mehr gute Anhaltspunkte: das Indonesien der ausgehenden 1990er Jahre und der Sturz Suhartos.
Zwischen der islamischen Bewegung des Ayatollah Khomeini, die im Iran 1979 die Macht an sich riss, und der Muslimbruderschaft im heutigen Ägypten bestehen sehr große Unterschiede. Die Muslimbruderschaft hat der Gewalt schon vor Jahrzehnten in Wort und Tat abgeschoren und tritt seither immer gemäßigter auf. Ihr fehlt ein charismatischer Anführer wie Khomeini, und sie hat bei der inoffiziellen Teilnahme an Parlamentswahlen am Wahlergebnis bereits erfahren, dass ihre Popularität Grenzen hat. Die Ägypter protestieren gegenwärtig nicht aus religiösen Gründen; islamistische Parolen oder Ziele spielen keine Rolle. Auch wenn die Muslimbruderschaft im politischen System nach Mubarak zweifellos eine bedeutende Rolle spielen wird, ist Ägypten von einer radikalen islamischen Revolution weit entfernt.
In Indonesien wurde Ende der 1990er Jahre ein Diktator gestürzt, der mehr als zwanzig Jahre regiert, sich als alleiniger Garant der Stabilität aufgespielt und stets fest an der Seite Washingtons gestanden hatte. Zu Fall kam er nach kurzen, aber heftigen Protesten, angeführt von Studierenden und einem Häuflein nichtstaatlicher Organisationen, die in den wenigen Nischen des politischen Systems überlebt hatten. Die Regierung von Bill Clinton hielt dem alternden Tyrannen bis kurz vor dem bitteren Ende die Treue. Sie mahnte vorsichtig einige Reformen an, weigerte sich zu glauben, dass Suharto so schnell stürzen könnte, und war tief besorgt über die möglichen Folgen: dass Indonesien im Chaos versinken, das Land auseinanderfallen oder die Macht von Islamisten übernommen werden könnte.
Doch Indonesien hat auf der Überfahrt zur Demokratie unsicher und schwankend, aber bemerkenswert erfolgreich navigiert – obwohl der Übergang plötzlich und unvorbereitet begann, die Sicherheitskräfte sich mit Blut an den Händen verschanzt hatten, das Land kaum tiefer gehende Erfahrung mit Demokratie hatte und die wenigsten Nachbarstaaten demokratisch waren. Heute ist das Land die größte Demokratie der islamischen Welt, verzeichnet ein starkes Wirtschaftswachstum und ist zu einer Stütze der Demokratie in Südostasien geworden. Im Parlament und im Kabinett sind vier islamische Parteien vertreten, doch ihr Stimmenanteil ist in den vergangenen zehn Jahren gesunken. Bei der letzten Parlamentswahl erreichten sie weniger als 30 Prozent. Gemäßigte islamische Werte haben in der Gesellschaft an Boden gewonnen, während der radikale Islam nach einigen Gewaltausbrüchen zu einer Randerscheinung geworden ist.
Nun ist Ägypten nicht Indonesien: In ihrer Geschichte, Gesellschaftstruktur, Wirtschaftslage und den nationalen Eigenheiten unterscheiden sich beide Staaten erheblich voneinander. Dennoch erinnern einige soziale und politische Erfahrungen und Strukturen in Ägypten an das Indonesien von vor zehn Jahren – von der Protestbewegung, in der sich junge Idealisten, bürgerschaftliche Gruppen und politische Oppositionspartien mischen, bis zu den langjährigen Bemühungen, säkulare und islamische Werte in ein Gleichgewicht zu bringen. Die Ähnlichkeiten genügen, um aus dem indonesischen Demokratisierungsprozess Hoffnung für Ägypten zu ziehen. Es lohnt sich daher, einige entscheidende Faktoren des erfolgreichen Übergangs in Indonesien genauer zu beleuchten. Erstens gelang, obwohl die große Masse die Diktatur scharf ablehnte, ein alle Kräfte einschließender politischer Neuanfang. Der Übergangspräsident erlaubte schnell Meinungsfreiheit und öffnete den politischen Raum. Die Apparatschiks aus dem Unkreis des Diktators fanden eine neue politische Rolle dank der Umgestaltung der früheren Regierungspartei, die nun ihre technisch-administrative Kompetenz in den Vordergrund stellte. Die Streitkräfte hatten sich geweigert, gewaltsam gegen die Protestierenden vorzugehen, und damit entscheidend zum Niedergang Suhartos beigetragen; ihre politische Rolle wurde nun stark beschnitten, aber nur in kleinen Schritten und mit ständigen Verhandlungen und Kompromissen. Und trotz des anfänglichen Durcheinanders bei den Wahlen und der Regierungsbildung durften sich Parteien jeder Richtung entfalten.
Zweitens verlief, sobald Suharto gestürzt war, der Übergang Schritt für Schritt nach den Buchstaben des Gesetzes. Das Land durchlief endlos scheinende Reformprozesse der Verfassung, des Wahlrechts und vieler anderer Gesetze; stets wurde dabei nach Kompromissen gesucht. Die unklaren und emotionalen Ideale der Reformasi-Ära wurden schrittweise in greifbare Institutionen, Regeln und Verfahren übersetzt. Dass diese detaillierten Reformziele ernsthaft verfolgt wurden, ließ für die Bevölkerung den dubiosen Nachfolger des Diktators, die Gewaltausbrüche, den beklagenswerten Zustand ihrer Volkswirtschaft, die Abspaltung Ost-Timors und manch andere Wirren der Übergangszeit erträglicher erscheinen.
Drittens warfen die USA und Europa ihre lang gehegten Bedenken gegen einen politischen Übergang über Bord. Sie boten wertvolle Hilfe an für die Wahlen, den Aufbau politischer Parteien, die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Reform des Rechtssystems. Wohl aufgrund der Größe des Landes und seiner relativ isolierten geographischen Lage verzichtete das Ausland aber darauf, den Prozess selbst anzuleiten, sondern begnügte sich mit der Rolle zurückhaltender, stiller, aber verlässlicher und hilfsbereiter Partner. Die guten Erfahrungen der indonesischen Bevölkerung mit dieser Unterstützung von außen haben mit dazu beigetragen, dass die Indonesier heute entschlossen sind, in ihrer eigenen Region aktiv die Demokratie zu fördern.
Solche Parallelen allein werden Ägypten nicht über schwere Zeiten hinweghelfen. Sein Weg wird eine komplexe Mischung unterschiedlichster Erfahrungen sein. Wer aber nach Wegen sucht zu verstehen, was US-amerikanische Kreise für undenkbar gehalten hatten, der sollte es dringend vermeiden, aus schlecht gewählten Vergleichen plumpe Schreckensszenarien abzuleiten. Genau die haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass die US-amerikanische Politik sich viel zu lange der Wirklichkeit in Ägypten und der ganzen arabischen Welt verschlossen hat. Es wäre klüger, auf Indonesien zu schauen als Beispiel dafür, wie der Übergang zur Demokratie in einem islamischen Staat gelingen kann.
Aus dem Englischen von Marten Henschel.
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