Den Islam vom Hass auf Homosexuelle befreien

Heute werden in islamischen Ländern Homosexuelle ins Gefängnis gesteckt, ausgepeitscht oder zum Tode verurteilt. In der Gesellschaft werden sie verfolgt und stigmatisiert. Darin drückt sich das Gefühl von Demütigung und Machtverlust bei muslimischen Männern aus. Um in islamischen Ländern mehr Schutz für die Menschenrechte von Homosexuellen zu erreichen, sollte man auf tolerantere Traditionen im Islam selbst zurückgreifen.

Die vorherrschenden Denkrichtungen im Islam betrachten Homosexualität als Schandtat. Wie kann man erreichen, dass im Islam die Rechte von Homosexuellen als Menschenrechte anerkannt werden? Dazu sollte man erstens tolerante Haltungen gegenüber der Homosexualität im klassischen islamischen Recht identifizieren. Zweitens sollte man darauf hinwirken, dass die islamischen Gesellschaften sich mit ihren eigenen homosexuellen Praktiken der Vergangenheit und Gegenwart aussöhnen. Drittens gilt es festzustellen, was für ein Gesetz erforderlich ist, das Homosexuelle schützt und mit dem Geist des Islam vereinbar ist.

Die Verdammung der Homosexualität im Koran und in der Sunna – den Taten und Aussprüchen des Propheten – ist Gegenstand von Debatten. Zum Beispiel spricht der Koran dreimal von schönen Jünglingen im Paradies, die den Gläubigen wie Konkubinen zu Diensten sind. Ob das Wort des Propheten authentisch ist, in dem er befiehlt, aktive (das heißt penetrierende) ebenso wie passive Homosexuelle zu töten, ist umstritten. Klar ist, dass er nie einen Homosexuellen verurteilt hat oder steinigen ließ.

Autor

Abdessamad Dialmy

ist Professor für Soziologie an der Universität Mohammed V in Rabat (Marokko). Sein jüngstes Buch ist „Vers une nouvelle masculinité au Maroc“ (CODESRIA, Dakar 2009).

In der sunnitischen Rechtslehre finden sich zur Homosexualität fünf verschiedene Lehrmeinungen. Nach der ersten soll sie mit dem Tod bestraft werden, egal ob die Täter verheiratet sind – strittig ist nur, wie sie getötet werden sollen. Die zweite Lehre sieht für Homosexualität dieselbe Strafe vor wie für Unzucht, nämlich die Todesstrafe für Verheiratete und Auspeitschung für Unverheiratete. Die dritte Lehrmeinung ist, dass nur die Strafe für aktive Homosexualität (für den penetrierenden Partner) davon abhängt, ob der Täter verheiratet ist; für den passiven Partner ist sie immer 100 Peitschenhiebe sowie ein Jahr Exil. Für die Hanafiten, die vierte sunnitische Lehrmeinung, stehen auf Homosexualität nur taazir-Strafen: Tadel, Schläge, Gefängnis oder Geldstrafen. Allerdings kann gegen Rückfällige die Todesstrafe verhängt werden. Fünftens sind einige Anhänger des Zahirismus – nach dieser Schule darf der Koran nicht interpretiert werden – der Ansicht, dass auf Homosexualität gar keine Strafe steht. Denn der Koran sieht keine juristische Strafe vor und die Echtheit des diesbezüglichen Spruches des Propheten sei unsicher.

Unter den Schiiten (zu dieser islamischen Konfession gehören etwa ein Siebtel der Muslime, sie bilden die Mehrheit im Iran und Irak) finden sich zwei große Lehrmeinungen zu Homosexualität. Die vorherrschende ist die der orthodoxen Zwölferschia, der größten schiitischen Strömung. Sie stellt kategorisch fest, dass sowohl aktive wie passive Homosexualität mit dem Tod bestraft werden muss, besonders wenn zwei mit Vernunft begabte Erwachsene freiwillig miteinander verkehren. Es spielt keine Rolle, ob sie Muslime, ob sie verheiratet und ob sie Freie oder Sklaven sind. Die Minderheitsmeinung vertritt die schiitische Sekte der „Ablehnenden“ (Rawafid), die zur Zeit des vierten Kalifen Ali entstanden ist und die ersten beiden Kalifen und Nachfolger des Propheten nicht anerkennt. Laut einem zeitgenössischen Ablehnenden, Ayatollah Amili, gesteht diese Lehre dem Gläubigen das Recht auf aktive Homosexualität zu, jedoch nur mit Jugendlichen. Homosexualität unter Erwachsenen ist legal, so lange keine anale Penetration stattfindet.

Es gibt im Islam also verschiedene Rechtsmeinungen, und nach einigen ist Homosexualität nicht strafbar. Islamisten neigen dazu, das zu verschweigen oder tolerante Haltungen zur Ketzerei zu erklären. Heute wenden Staaten, in denen das islamische Recht der Scharia gilt – wie der Iran, Saudi-Arabien und der Sudan –, die schärfsten Vorschriften gegen Homosexualität an: die der ersten beiden sunnitischen Lehren oder der vorherrschenden schiitischen. In anderen islamischen Ländern wie Marokko sind die Strafgesetze gegen Homosexualität eine säkularisierte Version des taazir und sehen Gefängnis oder Geldstrafen vor.

Der Islam, der sich als Religion der Vernunft versteht, sollte sich so reformieren, dass er dem Hass auf Homosexuelle stärker entgegentritt

Dagegen haben die islamischen Reiche aus der Zeit vor den Nationalstaaten die Homosexualität nicht bestraft. Sie haben homosexuelle Praktiken, die sehr verbreitet waren, sogar mehr als nur geduldet. In der Oberschicht, wo Konkubinen nach Belieben verfügbar waren, bevorzugten einige Persönlichkeiten – darunter eine Reihe von Kalifen – Knaben. In den Tavernen fand man Päderasten und Lesben. In mystischen Initiationsriten „empfingen junge Aufzunehmende üblicherweise von Erwachsenen die feierliche Umarmung von hinten und von vorn“. Alle diese Beziehungen gründeten auf Ungleichheit, wie sie für patriarchalische Sexualität bezeichnend ist: Zwischen dem Mann und seinen Partnern gibt es keine Gleichberechtigung, sondern Beziehungen etwa zwischen Meister und Gefolgschaft, Koranlehrer und -schüler, Handwerker und Lehrling. Homosexuelle Beziehungen waren genauso hierarchisch wie heterosexuelle zwischen Mann und Frau.

Päderastie war sozial akzeptiert und wurde verharmlost. Homosexuelle, die sich penetrieren ließen, wurden weder strafrechtlich verfolgt noch sozial verdammt. Ihr Status wurde von ihrem Alter bestimmt: Knaben hatten das Recht, mit Erwachsenen passiv zu verkehren. Nach der Jugend sollten sie erwachsen werden, das heißt ihrerseits Jugendliche und Frauen penetrieren. Wer weiter die passive Rolle einnahm, verkörperte das Scheitern der Sozialisation und galt als Prostituierter oder als effeminiert (verweiblicht). Der Status solcher passiver Homosexueller war anerkannt und niemand bedrohte sie mit Strafen.

Der Islam, der sich als Religion der Vernunft versteht, sollte sich heute so reformieren, dass er dem Hass auf Homosexuelle, der Homophobie, stärker entgegentritt. Um in diese Richtung voran zu kommen, ist es nötig, den Islam zu kontextualisieren, zu säkularisieren, spirituell zu erneuern und zu aktualisieren.

Kontextualisieren bedeutet zu fragen, warum Homosexualität verboten und bestraft wurde. Für den frühen Islam kam es darauf an, die Gläubigen zu vermehren. Diesem Ideal konnten homosexuelle Beziehungen nicht dienen. Heute aber wissen die Muslime, dass eine große Zahl nicht länger Stärke bedeutet. Und sie wissen, dass das Vergnügen ein vom Islam gebilligtes Ziel an sich darstellt. Einige Muslime finden dieses Vergnügen in homosexuellen Beziehungen. Von der Wissenschaft werden diese nicht länger als Störung oder Perversion betrachtet – wissenschaftlich gesehen sind alle sexuellen Orientierungen normal. Die Muslime sind aufgerufen, sich auf das Niveau dieser wissenschaftlichen Betrachtung hoch zu begeben.

Unter säkularisieren verstehe ich, den Glauben vom Gesetz zu trennen. Ein Muslim bleibt auch als Homosexueller Muslim, und ein islamischer Staat bleibt islamisch, wenn er die Strafen für Homosexualität abschafft. Der Islam jedes Einzelnen ist eine Frage des Glaubens. Die Säkularisierung des Rechts ist ein Weg, den Islam von Homophobie zu reinigen – ebenso wie von Sexismus und Frauenverachtung.

Eine nicht patriarchalische Auffassung von Männlichkeit beginnt sich in der islamischen Welt Bahn zu brechen

Spirituell erneuern heißt wieder zum Geist des Islam jenseits des Buchstabens zu finden. Eine Tradition der Sufis, der islamischen Mystiker, sieht Gott in jedem Geschöpf, egal was es sei – und unabhängig von der sexuellen Orientierung, füge ich hinzu. Für diesen Islam haben alle Geschöpfe das Recht auf Anerkennung, und die Unterschiede der sexuellen Orientierung sind Ausdruck eines göttlichen Willens. Sie müssen nicht nur geduldet, sondern in eine Art Bürgerschaftsrecht übersetzt werden: Alle Gläubigen, welcher sexuellen Orientierung auch immer, haben die gleichen Rechte.

Unter aktualisieren verstehe ich, die soziale Fortentwicklung zu berücksichtigen. Muslimische Homosexuelle (so genannte passive) akzeptieren sich heute als solche. Auch der Blick auf die Homosexualität hat sich verändert. Zum Beispiel stimmen 44 Prozent der Bevölkerung in Marokko zu, dass jeder Mensch weibliche und männliche Züge in sich trägt, und für 25 Prozent lässt Homosexualität den Mann nicht seine Männlichkeit verlieren. Eine nicht patriarchalische Auffassung von Männlichkeit beginnt sich in der islamischen Welt Bahn zu brechen.

In der Verurteilung und Unterdrückung der Homosexualität drückt sich die Lebenswelt von Muslimen aus, die ihre Macht und ihr Ansehen verloren haben. Je mehr ein Mann schwach und gedemütigt ist, desto mehr hat er das Bedürfnis, an einer männlichen Heterosexualität festzuhalten, die als überlegen definiert wird – von einem Islam, der selbst als überlegen, rein und hart mystifiziert wird. Tatsächlich ist er simpel, der Kultur entkleidet und abstrakt.

Diesen geschwächten Muslim muss man an die Toleranz erinnern, die der Prophet an den Tag gelegt hat, und an die Verbindung zwischen dem goldenen Zeitalter des Islam und der Akzeptanz von Homosexualität. Und man muss die schiitischen und sunnitischen Rechtsmeinungen, die Homosexualität nicht mit Strafen belegen, politisch zur Wirkung bringen. Warum diese an den Rand gedrängten Meinungen nicht in politisch dominierende verwandeln? Warum soll man sie nicht an den Schulen lehren und über die Medien verbreiten sowie Lehrern, Imamen und allen einprägen, die dazu beitragen, im Islam die öffentliche Meinung in Fragen der Sexualität zu bilden?

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erschienen in Ausgabe 10 / 2009: Homosexualität: Akzeptiert, verdrängt, verboten
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