Der inszenierte Frieden

Der frühere Präsident Álvaro Uribe hat mit einer Doppelstrategie versucht, den 50-jährigen Bürgerkrieg in Kolumbien zu beenden: Er verordnete Frieden per Gesetz und sagte der linken Guerilla einen noch härteren Kampf an. Die Bilanz ist bestenfalls gemischt.
Ein Mörder, der bereits zu 30 Jahren Haft verurteilt ist, steht für ein neues Verbrechen vor Gericht. Carlos Andrea Lara Cabrales ist Soldat und soll 2003 eine junge Frau umgebracht haben. Zur Anhörung in der kolumbianischen Stadt Valledupar begleiten ihn an diesem Tag im November 2010 acht bewaffnete Kameraden und ein ziviler Bewacher. Nach der Vernehmung beantragt sein Anwalt, ihn vom weiteren Prozess freizustellen. Cabrales Anwesenheit sei nicht mehr unbedingt notwendig. Außerdem könne der Staat so Geld sparen. Am nächsten Tag sitzt Cabrales in einem Flugzeug und fliegt in die Hauptstadt. Allein.
 

Autorin

Claudia Isabel Rittel

ist freie Journalistin und lebt in Offenbach am Main.

Alex Klüken und Sandra Gamboa wurden Zeugen des Vorfalls – sie hatten denselben Flug genommen. Die Menschenrechtsanwältin Gamboa vertritt die Angehörigen der Ermordeten. Klüken arbeitet für die internationalen Friedensbrigaden (PBI) und begleitete sie. „Eigentlich denkt man, es geht in Kolumbien voran“, sagt Klüken, der das Land schon lange kennt. „Wenn man aber so etwas erlebt, stellt man doch wieder alles in Frage.“

Seit 2005 läuft in Kolumbien der so genannte Prozess für Gerechtigkeit und Frieden. Der damalige Präsident Álvaro Uribe hatte ihn per Gesetz verordnet und zugleich ein hartes Vorgehen gegen Guerillagruppen angekündigt. Ziel war es, den rund 50-jährigen Krieg in dem Andenland zu beenden, in dem sich die Armee – unterstützt von paramilitärischen Einheiten, die oft im Dienste von Großgrundbesitzern stehen – blutige Kämpfe mit der Guerilla liefert. Kern des Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden war die Demobilisierung der Paramilitärs, die Uribe schon kurz nach seinem Amtsantritt 2002 angestoßen hatte. Eine Kronzeugenregelung sollte sie dazu bringen, ihre Verbrechen zu gestehen sowie Hintergründe und Strukturen offenzulegen. Im Gegenzug dafür drohten ihnen maximal acht Jahre Haft – auch denjenigen, die dutzende oder gar hunderte Menschen auf dem Gewissen haben.

Das Gesetz unterstreicht zudem die Rechte der Opfer und verspricht ihnen Wiedergutmachung. Um eine „nationale Versöhnung“ zu erreichen, schuf Uribe eine Übergangsjustiz, die sich mit den Verbrechen der demobilisierten Paramilitärs beschäftigen soll. Er rief ferner die Nationale Kommission für Wiedergutmachung und Versöhnung ins Leben, die sich um die Opfer paramilitärischer Verbrechen kümmern soll. Darüber hinaus wurden ein Reparationsfonds und eine Kommission für die Rückgabe enteigneten Eigentums eingerichtet.

Ist die doppelte Strategie Uribes aufgegangen? Der Bürgerkrieg, der das Land seit Jahrzehnten in Atem hält, findet nicht mehr direkt in den Städten statt. Die Armee hat die Untergrundkämpfer erfolgreich von dort verdrängt. Ihre Einwohner müssen sich nicht mehr vor Bomben fürchten, auf vielen Überlandstraßen sind Überfälle seltener geworden und auch die Karibikküste ist wieder sicherer. Dafür hat Uribe sehr viel Zustimmung im Land bekommen. Egal ob Arzt, Architektin, Putzfrau oder Taxifahrer: Eine überwiegende Mehrheit der Kolumbianer rechnet ihm das als Verdienst an.

Der Preis dafür allerdings ist hoch: Der Druck auf die Armee, Resultate zu liefern, war so groß, dass auch Zivilisten ihr Leben lassen mussten. Soldaten gaben sie dann als getötete Guerilleros aus und kassierten Prämien. Der aktuelle Kolumbien-Bericht der UN- Sonderberichterstatterin für Menschenrechte, Navanethem Pillay, geht von mindestens 3000 Opfern dieser „außergerichtlichen Hinrichtungen“ aus. Die meisten davon wurden zwischen 2004 und 2008 getötet. Möglicherweise ist das auch das Motiv für den Mord, für den der Soldat Cabrales vor Gericht steht. Inzwischen laufen in rund 1400 Fällen Ermittlungsverfahren und Gerichtsprozesse.

Und der Friedensprozess? „Es gibt überhaupt keinen Friedensprozess“, sagt Alberto Yepes. Er leitet bei der Dachorganisation „Koordination Kolumbien Europa USA“ (CCEEU) eine Abteilung, die kontinuierlich die Lage der Menschenrechte in Kolumbien analysiert. „Dieses Bild hat die Regierung bloß der internationalen Gemeinschaft verkauft.“ Weil es keine Strategie für Verhandlungen gebe, sei Frieden unmöglich, fügt er hinzu. Wie viele kolumbianische Menschenrechtler wirft er der Regierung vor, die Demobilisierung der Paramilitärs nicht konsequent genutzt zu haben, um Informationen über ihre Hintergründe und die Organisationsstruktur herauszufinden.

Deutlich wird das auch am Fall von Carlos Mario Jiménez, einem der einflussreichsten Köpfe der Paramilitärs. Er wurde im Mai 2008 an die USA ausgeliefert. Zuvor hatte „Macaco“, wie er auch genannt wird, bereits zehn Mal öffentlich über seine kriminelle Vergangenheit gesprochen, ohne jedoch substanzielle Erkenntnisse zu liefern. Die Wochenzeitschrift „Semana“ kritisierte damals, der Prozess sei „noch nicht einmal bei der Hälfte“ angelangt. Sowohl für „Macaco“als auch für Politiker oder Militärs, die mit ihm zusammengearbeitet haben, könnte die Auslieferung ein feiner Deal gewesen sein. Da Kolumbien seit Ende 2009 auch dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) unterliegt und dieser bereits Vorermittlungen dort führt, hätte Jiménez ein Verfahren in Den Haag drohen können. In den USA hingegen muss er sich nur wegen Drogenhandels verantworten und braucht das Team von IStGH- Chef-Ankläger Luis Moreno-Ocampo nicht zu fürchten. In Kolumbien aber sind mit dem vorzeitigen Ende des Prozesses zahlreiche Fragen unbeantwortet geblieben.

Völlig missglückt ist außerdem die Wiedereingliederung der ehemaligen Kämpfer in die Gesellschaft. Zwischen 2003 und 2006 haben laut Human Rights Watch etwa 32.000 Mitglieder der Paramilitärs ihre Waffen niedergelegt. Im Oktober 2010 hatte die zuständige Stelle bei der Staatsanwaltschaft laut International Crisis Group aber erst in knapp einem Zehntel der Fälle Ermittlungen eingeleitet. Was mit den anderen ist, bleibt unklar. „Wir wissen es nicht“, sagt eine Insiderin, die nicht genannt werden möchte. Es sei aber davon auszugehen, dass Personen die Waffen niedergelegt hätten, die gar nicht in paramilitärischen Einheiten organisiert waren. Denn immerhin bekam jeder, der eine Waffe abgab, gut hundert Euro. „Es ist ein rein statistischer Erfolg“, sagt ein Psychologe, der bei Demobilisierungen an verschiedenen Orten dabei war. Mit der Lebenswirklichkeit der Leute habe man sich nicht auseinandergesetzt. Andererseits hätten sich viele tatsächliche Kämpfer – vor allem aus den höheren Hierarchiestufen – nicht beteiligt. Inzwischen ist allseits bekannt, dass viele paramilitärische Gruppen unter anderen Namen weiter existieren oder sich neu gegründet haben. Bacrim werden sie nun verharmlosend genannt – für „Bandas Criminales“ (kriminelle Banden). Die Motivation dieser Truppen ist laut den dem UN-Bericht in erster Linie der „wirtschaftliche Nutzen illegaler Aktivitäten“, also der Drogenhandel und die Ausbeutung von Naturressourcen.

In den Gerichtsverfahren, die die Übergangsjustiz angestoßen hat, gibt es auch nach sechs Jahren noch kein rechtskräftiges Urteil. Zwei Richtersprüche wurden zwar im vergangenen Jahr verkündet, doch in beiden Fällen haben die Opfer der Verbrechen Berufung eingelegt. In beiden Verfahren, so die UN, habe es schwere Fehler bei der Beachtung der Rolle der Opfer gegeben. Einen Gesetzentwurf, der ihnen einen besseren Schutz und stärkere Rechte in der Übergangsjustiz bringen sollte, hat der Kongress 2009 aus Kostengründen abgelehnt – doch Geld ist notwendig, um die Ermittlungsbehörden besser auszustatten. Derzeit wird an einem neuen Entwurf gearbeitet.

Alberto Yepes sieht die Arbeit der Übergangsjustiz zwiespältig. Die neuen Institutionen und Mechanismen hätten zur Wahrheitsfindung beigetragen, sagt er. Immerhin seien so rund 170.000 Verbrechen und 30.000 Morde bekannt geworden. An Hintermänner, Nutznießer und Strukturen sei man jedoch nicht herangekommen. Außerdem bleibe die Entschädigung der Opfer auf der Strecke. „Die Gesetze müssen dringend nachgebessert werden“, fordert er deshalb. Ebenso wie die UN- Menschenrechtsbeauftragte.

Präsident Juan Manuel Santos, der im vergangenen August das Präsidentenamt von Uribe übernommen hat, führt den von seinem Vorgänger angestoßenen Prozess fort. Einige setzen Hoffnung in Santos und trauen ihm zu, dass er sich ernsthaft um Frieden im Land bemüht. Ein Anliegen, das sich der Präsident auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Rückgabe von enteignetem Land. Vor einigen Jahren wäre allein die politische Diskussion darüber völlig unmöglich gewesen – das Thema galt als von den Linken besetzt.

Andere betrachten Santos, unter Uribe Verteidigungsminister, jedoch kritisch. Schließlich gehörte er einer Regierung an, in deren Amtszeit es zu mehreren Skandalen kam. So stellte sich unter anderem 2009 heraus, dass der Geheimdienst DAS, der dem Präsidenten untersteht, viele kritische Journalisten, Richter, Oppositionspolitiker und Menschenrechtsaktivisten sieben Jahren lang bespitzelt hatte. Uribe kassierte eine Rüge der UN – mindestens ein Sonderberichterstatter war ebenfalls im Visier des DAS. Im Rahmen der „Operation Europa“ sollen zudem europäische nichtstaatliche Organisationen abgehört worden sein. Belgische und spanische Behörden ermitteln derzeit in verschiedenen Fällen. Geheimdienstchef Jorge Noguera steht vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem vor, die Informationen gezielt an Paramilitärs weitergegeben zu haben.

Während Uribes Amtszeit wurde außerdem bekannt, dass die nationale Politik enge Bande zu Paramilitärs pflegte. Das führte zu 120 Anklagen von amtierenden und ehemaligen Kongressabgeordneten. Inzwischen sind zehn verurteilt, einer wurde freigesprochen und ein Großteil der Fälle ist noch anhängig. „Wenn die acht Jahre Uribe für irgendetwas gut waren, dann dafür, dass sie das Fass zum Überlaufen gebracht haben“, sagt eine Anwältin, die als lokale Ombudsfrau arbeitet und anonym bleiben möchte. Immerhin hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Santos die Lage von Menschenrechtsaktivisten laut UN-Angaben leicht entspannt. Unter seinem Vorgänger war sie von Jahr zu Jahr schlechter geworden.

Der per Gesetz verordnete „Friedensprozess“ der vergangenen Jahre kann nur dann tatsächlich zu einem ersten Kapitel in der Aufarbeitung der gewaltsamen Geschichte Kolumbiens werden, wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Mehr als 280.000 Menschen haben sich bereits bei staatlichen Stellen als Opfer der Paramilitärs registrieren lassen. Hinzu kommen die vielen Opfer der Guerilla, die nicht weniger zimperlich mit Zivilisten umgeht. Insgesamt 3,4 Millionen wurden aus ihren Dörfern vertrieben. Daraus erwachsen gewaltige Aufgaben für den Staat. Die Kolumbianer werden nur dann ihr Vertrauen zu ihm wiedergewinnen, wenn sie sicher sein können, dass verurteilte Mörder wie Cabrales nicht einfach weiter frei herumlaufen.

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