Patrícia Melos Roman zeichnet den Weg wohnungsloser Menschen in Brasilien nach, die allgegenwärtig sind und doch unsichtbar bleiben. Und sie zeigt darauf, was im größten Land Lateinamerikas strukturell schiefläuft.
Im Jahr 2022, als Patrícia Melos Roman in Brasilien erscheint, hat das Land gerade eine Katastrophe durchlebt: Über eine halbe Million Menschen sind an einem Virus gestorben, dessen zerstörerische Kraft der damalige Präsident bis zuletzt leugnete. Und obwohl weder Corona noch Jair Bolsonaro in dieser Geschichte namentlich Erwähnung finden, ist sie auch eine Verarbeitung des Schmerzes, den die Pandemie hinterlassen hat.
So ist Seno Chacoy, einer von einem Dutzend Hauptfiguren des Romans, aus Venezuela geflüchtet. In Brasilien erlebt er als erstes, wie schlecht über sein Heimatland geredet wird: über die Warteschlangen, die Plünderungen, den Hunger. Mit der Pandemie, registriert er dann, „lernte Brasilien, dass es nur eines Wimpernschlags bedurfte, um zu einem zweiten Venezuela zu werden“.
In früheren Romanen hat die brasilianische Autorin über Femizide im Amazonasgebiet und die Drogenmafia geschrieben und immer wieder gesellschaftliche Ungerechtigkeit zum Thema gemacht. Glaubt man ihrer Nachbemerkung, war die Recherche für „Die Stadt der Anderen“ aber besonders schmerzhaft und schwierig. Denn die, nach offiziellen Statistiken, fast 40.000 in São Paulo lebenden Wohnungslosen bilden, wie sie schreibt, eine Stadt in der Stadt, die ihrer eigenen Logik folgt und um die sich staatliche Institutionen nur insoweit kümmern, als dass sie die arbeitende Menge nicht stören sollen. Diese Abgestiegenen, deren Zahl sich während der Pandemie verdoppelte, schleppen sich von Mahlzeit zu Mahlzeit und von Schlafplatz zu Schlafplatz, immer auf der Hut vor Rassismus, polizeilicher Willkür oder gar tödlichen Angriffen.
Melos Charaktere sind fehlerhaft, kaputt und verletzlich
Zu ihnen gehören im Roman Jéssica, ein schwangeres Mädchen, das um das Recht kämpft, trotz ehemaliger Drogenabhängigkeit ihr Kind großzuziehen, und Chilves, der vom Verlust seines eigenen Bruders traumatisierte Vater des Kindes. Ebenso wie Iraquitan, ein Straßenlyriker, den ein profitriechender Verleger aufgabelt und ihn darauf hinweist, dass sich niemand für lange Geschichten voller Wörter und Figuren interessiere, „die über zweihundert Seiten leiden“. Melos Roman ist aber ironischerweise genau das. Dass die Perspektiven dabei alle fünf bis zehn Seiten wechseln, trägt indes dazu bei, dass die Figurenentwicklung nicht langweilig wird. Melos Charaktere sind fehlerhaft und kaputt. Sie lügen, betrügen und schrecken auch nicht vor schlimmster Gewalt zurück. Trotzdem sind sie in ihrer Verletzlichkeit nahbar, bleibt ihr Handeln emotional nachvollziehbar.
Hier und da bedient das Buch verbreitete Klischees, etwa von der Putzangestellten, die sich ausmalt, wie sie eines Tages eine Villa mit Pool bewohnt, oder dem Vagabunden, dessen Hund Futter kriegt, bevor er selbst isst. Dann wieder unterläuft sie es, etwa wenn eine Trans-Frau nur ganz beiläufig als solche kenntlich wird oder ein selbstverwaltetes Projekt in einem besetzten Haus in seinen unspektakulären täglichen Mühen gezeigt wird. Was die gebrochenen Lebensläufe von Melos Figuren eint, ist ihre Hoffnung auf mehr.
Der Stil ist dialoglastig, die Sprache nah an Mündlichkeit. Melo ist erfahrene Krimi-Autorin und auch in der „Stadt der Anderen“ herrscht permanent Spannung. Der Roman ist mehr als ein Aufzeigen des Elends: Ein unterhaltungsliterarischer Genuss, eine packende Story und obendrein gut recherchierte Gesellschaftskritik. Eine Leseempfehlung für alle Brasilien-Interessierten.
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