Funktionales Staatsversagen

Katrin Glatz Brubakk, Guro Kulset Merakerås, Inside Moria, Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit, Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024367 Seiten, 26,00 Euro

Die norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk legt zusammen mit der Journalistin Guro Kulset Merakerås eine Chronik des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos vor. Ihr Fokus liegt auf den Verletzlichsten unter allen Geflüchteten, den Kindern.

Das Buch beruht vor allem auf Notizen aus Therapiegesprächen, Interviews, Social-Media-Posts und Tagebucheinträgen und umspannt die Zeit zwischen Sommer 2015 und Januar 2024. In diesen Zeitraum fiel die Flucht Hunderttausender vor dem Vernichtungskrieg des Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung, dem IS-Terror und dem Vormarsch der Taliban in Afghanistan ebenso wie der EU-Migrations- und Asylpakt (GEAS) samt seiner Auswirkungen auf die Menschen in den Lagern auf den Ägäisinseln. 

Glatz Brubakk bettet ihre Erfahrungen als Helferin in den politischen und historischen Kontext dieser dramatischen Phase ein. Sie arbeitet heraus, wie es – entgegen aller Warnungen von Fachleuten – dazu kam, dass aus dem EU-finanzierten und für die Aufnahme von 2800 Menschen ausgestatteten Registrierungs- und Aufnahmezentrum in Moria ein Elendslager wurde, in dem bis zu dem verheerenden Feuer vom 8. September 2020 bis zu 20.000 Flüchtlinge auf engstem Raum unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht waren. Anhand von Einzelschicksalen zeigt sie, welcher Gewalt, Inkompetenz und Gleichgültigkeit der politisch Verantwortlichen, aber auch Hetze und Diskriminierung Kinder vor und nach ihrer Ankunft in Moria ausgesetzt waren. So kam es etwa vor 2020 und dem Feuer in Moria zu regelrechten Hetzjagden gegen Geflüchtete, an denen sich Einheimische, aber auch Rechtsradikale aus ganz Europa beteiligten, die als Prügel-Touristen nach Lesbos reisten. Die Autorin beschreibt entsetzliche Polizeigewalt und Übergriffe von Wachleuten gegen Kinder. Auch der damals zuständige griechische Migrationsminister Notis Mitarakis fiel immer wieder durch übelste rassistische Ausfälle gegen Flüchtlinge auf, etwa bei seinen Auftritten im Athener Parlament auf. 

Bei alldem verdichtet sich – auch wenn die Autorinnen das so explizit nicht formulieren – der Eindruck, dass das Staats- oder besser Staatenversagen im Angesicht der Massenflucht aus Syrien, Afghanistan oder den vom IS terrorisierten Gebieten von Anfang an vor allem der Abschreckung diente.

Einige Berichte über das, was Kinder auf ihrer Flucht erlitten haben, sind kaum auszuhalten. Etwa die Schilderung des Schicksals dreier Jungs, die erwachsene Flüchtlinge bei schwerem Seegang nachts in der Meerenge von Mytilini wie überflüssigen Ballast aus dem von Schleusern völlig überladenen Schlauchboot ins Meer geworfen haben und die es wie durch ein Wunder dennoch an den Strand von Lesbos schafften. Glatz Brubakk hilft mit kurzen Einschüben zu psychologischen Grundbegriffen wie Traumata, Verhalten von Kindern unter extremem Stress oder Resilienz, das Geschehene einzuordnen. 

Am dichtesten, intensivsten ist dieses Buch in der Beschreibung von Szenen und Momenten der direkten Arbeit mit Kindern. Dazu tragen auch die beeindruckenden Bildstrecken bei, mit denen der Fotograf Knut Bry den Alltag in Moria festgehalten hat. 

„Inside Moria", das ist den Autorinnen wichtig,  soll kein Plädoyer dafür sein, dass alle Asylanträge in Europa genehmigt werden müssten. Aber es erinnert nachdrücklich daran, dass alle Menschen das Recht haben, Asyl und Schutz vor Verfolgung und Gewalt zu beantragen. Und dass ihr Antrag gerecht und entsprechend internationaler Menschenrechtskonventionen bearbeitet werden muss. Gleichzeitig liest sich dieses Buch wie eine eindringliche Warnung vor einem Europa, das nicht mehr zu Empathie und Solidarität fähig ist.

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