Was wäre eigentlich, wenn alle Palästinenserinnen und Palästinenser schlagartig aus Israel verschwinden würden? Dieser fiktiven Frage geht die palästinensische Autorin Ibtisam Azem in ihrem jüngsten Roman nach und wirft damit zentrale Fragen im Zusammenleben von Juden und Arabern auf.
Ariel und Alaa sind seit vielen Jahren Freunde. Beide leben in Israel, der eine ist Jude, der andere Araber. Beide leben im gleichen Wohnblock am Rothschild-Boulevard in ihrer Heimatstadt Tel Aviv.
Eines Morgens sind im ganzen Land alle Palästinenserinnen und Palästinenser verschwunden. Ohne vorherige Ankündigung, ohne Spuren zu hinterlassen. Busse fahren nicht mehr, im Krankenhaus fehlen Ärzte, ein beliebtes Hummus-Restaurant bleibt geschlossen. Die Verwirrung bei denen, die zurückgeblieben sind, ist groß. Auch Verunsicherung und Angst machen sich breit. Was steckt hinter dem spurlosen Verschwinden? Ein Komplott der arabischen Nachbarstaaten? Steckt eventuell die eigene Regierung, der Geheimdienst oder gar die Armee dahinter?
Eigentlich könnte das Verschwinden der arabischen Bevölkerung alle Probleme Israels lösen. Die religiösen Juden und die Siedler feiern bald die neue Situation als Geschenk Gottes und beginnen, die nun leer stehenden Wohnungen, Häuser und Dörfer für ihre eigenen Zwecke zu verplanen. Ariel dagegen macht sich auf die Suche nach seinem Freund Alaa, streift stundenlang durch die Straßen von Tel Aviv, immer begleitet von einem roten Heft, das er in Alaas Wohnung gefunden hat. Es ist eine Art Tagebuch, in dem der Freund Erinnerungen an seine kürzlich verstorbene Großmutter aufgeschrieben hat.
Unverständnis bis zum Schluss
Diese hatte sich 1948, bei der Staatsgründung Israels, als 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben wurden, gegen die Flucht entschieden und war hochschwanger in Jaffa geblieben, das später ein Teil von Tel Aviv wurde. Von seiner Großmutter hat Alaa die Liebe zu Jaffa und zu Palästina geerbt. Ihre Erzählungen waren für ihn zur inneren Landkarte seiner Heimatstadt geworden, deren Straßen heute andere Namen haben und deren Bewohner heute andere sind.
Je mehr Ariel in dem roten Heft liest, desto deutlicher wird, wie wenig er manches verstanden hatte – etwa warum Alaa hysterisch lachte, als Ariel ihm vorhielt, dass der Staat Israel ihm auch viel gebe. Alaa hatte ihn angebrüllt, erinnert sich Ariel: „Hast du jemals von al-Manschijja gehört, von al-Scheich Muwannis, von al-Mas’udijja und den Dörfern um Jaffa? Aber selbst wenn wir die rückständigsten Menschen auf der Welt wären, hättet ihr noch immer nicht das Recht, uns zu vertreiben.“ Ibtisam Azem trifft mit „Das Buch vom Verschwinden“ einen wunden Punkt in der Geschichte und Gegenwart Israels.
Selbst 75 Jahre nach der Gründung des heute modernen und prosperierenden israelischen Staates ist das Zusammenleben zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung von der schweren Hypothek belastet, dass die Menschen einander trotz unmittelbarer Nachbarschaft nicht wirklich kennen lernen. Dass Ariel es sich im letzten Kapitel des Buches in der Wohnung von Alaa gemütlich macht und beim Einschlafen noch darüber nachdenkt, dass er am kommenden Morgen unbedingt das Schloss in der Wohnungstür würde austauschen lassen müssen, ist ein bitteres Ende für einen bewegenden Roman, den man nach der letzten Seite nicht so einfach beiseitelegt.
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