Die unterschätzte Macht der Zivilbevölkerung

Ashley Jackson: Negotiating Survival. Civilian-Insurgent Relations in Afghanistan, Hurst, London 2021, 328 Seiten, 37 Euro

Die Konfliktforscherin Ashley Jackson erklärt in ihrem Buch, wie Menschen in Afghanistan mit den Taliban verhandeln, um ihren Alltag zu erleichtern und die politische Lage im Land mitzugestalten.

Wenn es um Afghanistan und die Taliban geht, ist regelmäßig auch und zu Recht die Rede davon, wie sehr die Zivilbevölkerung unter der jetzigen Lage leidet. Dabei werde aber die aktive Rolle von Zivilistinnen und Zivilisten meist übersehen, betont die britische Konfliktforscherin Ashley Jackson. Stattdessen würden diese Menschen oft als passive Gruppe dargestellt, die dem Willen derer folge, die gerade an der Macht seien. Die Menschen, die – auch schon vor deren offizieller Machtübernahme vor einem Jahr – in von Taliban regierten Gebieten lebten, verhandelten aber durchaus mit den Mächtigen und konnten zumindest teilweise eigene politische Anliegen einbringen und ihre Lebenssituation mitgestalten, berichtet die Autorin. So schafften es örtliche Gemeinschaften immer wieder, dass seit der offiziellen Machtübernahme Mädchen auch in manchen von den Taliban kontrollierten Gebieten wieder zu Schule gehen konnten.

Jackson macht die Faktoren und Strategien sichtbar, die diese Verhandlungen begleiten. Weil die Menschen in Afghanistan seit Jahrzehnten mit ständigen Kämpfen lebten, hätten sie gelernt, mit allen Parteien zu verhandeln: mal mit dem Staat oder internationalen Gruppen, mal mit einer Terrorgruppe. 

Bürger, Talibankämpfer und Staatsangestellte dabei als völlig separate Gruppen darzustellen, sei vorschnell, betont die Autorin. Denn die Verhandelnden kennten sich meist, seien im gleichen Dorf aufgewachsen und vielleicht sogar miteinander verwandt. Zudem komme es vor, dass Menschen, die als „Zivilisten“ gelten, zuvor schon einmal für die Taliban gekämpft haben. Umgekehrt folgten die Taliban nicht immer ihrer eigenen Ideologie. So wurde eine Schule zum Beispiel deshalb wieder eröffnet, weil die Taliban eigene Lehrende beschäftigen und die Kinder als Spitzel gegen ihre Eltern einsetzen konnten. Eine andere Schule wurde für Mädchen unter dem Vorbehalt geöffnet, dass dort auch die Tochter des Talibanführers der Region unterrichtet wurde.

Wann die Verhandlungsbereitschaft der Taliban wächst

Auch Gewalt, zum Beispiel gegen religiöse Oberhäupter, sei als Teil einer größeren Strategie der Taliban zu verstehen und werde von diesen nie ziellos angewandt. Zu Anfang ihrer Kämpfe setzten die Taliban viel und brutale Gewalt ein, um ihre Macht auszuweiten. Häufig fokussierten sie ihre Angriffe auf Autoritätspersonen mit großem Einfluss auf die örtliche Bevölkerung. Einmal an der Macht, nutzen die Taliban Angriffe auf Zivilisten dann vor allem, um Verstöße zu bestrafen und Bürger davon abzuschrecken, mit staatlichen Institutionen zu verhandeln. Insgesamt wachse die Verhandlungsbereitschaft der Taliban, wenn sie sich in einem Gebiet sicher fühlten. Dann nehme auch die Gewalt ab.

Jacksons Buch ist allen zu empfehlen, die sich tiefgehend mit der Situation in Afghanistan beschäftigen möchten – ob mit oder ohne Vorkenntnisse. Wer bislang wenig über den Konflikt weiß, wird durch die lange und konfliktreiche Geschichte des Landes geführt. Obwohl es ein wissenschaftliches Buch ist, werden die Personen, die darin vorkommen lebendig – und mit ihnen ihr Alltag. Jackson schreibt eingängig und spickt ihre Forschungsergebnisse mit Anekdoten und Beschreibungen der Menschen.

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