Komplex, aber nicht konfus

Timo Dorsch, Jana Flörchinger, Börries Nehe (Hg.): Geographie der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika. Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2022, 284 Seiten, 23 Euro

Die Autorinnen und Autoren des Sammelbands durchleuchten die Vielschichtigkeit der Gewalt in Teilen Lateinamerikas.

Gewalt gehört in einigen Regionen Lateinamerikas, zum Beispiel im Grenzgebiet Mexikos zu den USA oder den Favelas in Brasilien, zum Alltag. Wieso das so ist, scheint zunächst kaum durchschaubar, zumal staatliche Institutionen und organisierte Kriminalität sich oft überschneiden. Gewalt – etwa in Form von Morden oder dem Verschwindenlassen – scheint kein konkretes Ziel zu verfolgen, ihre Ursachen bleiben im Verborgenen. Wie der Arzt und Psychologe Carlos Beristain schreibt, sind die Konflikte jedoch nicht konfus, sondern nur komplex.

Mit dem Sammelband wollen Timo Dorsch, Jana Flörchinger und Börries Nehe diese Komplexität verständlicher machen. 15 Beiträge, darunter viele aus lateinamerikanischen Staaten wie Mexiko, Argentinien und Brasilien, leisten das und gehen auch der Frage nach, wie die Gewalt durchbrochen werden kann. 

In vier Teilen betrachten sie Aspekte der Gewalt seitens staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen. Im Teil Narrar (Erzählen) geht es darum, wie über Gewalt berichtet werden kann, um die zugrunde liegenden Strukturen zutage zu fördern, zugleich aber die Gefahren für Medienschaffende zu senken. Im zweiten Teil Cuerpo (Körper) geht es um die Verbindung von patriarchaler und (post-)kolonialer Gewalt. Denn auch weibliche und schwarze Körper seien von einer Art territorialer Eroberung betroffen. Comunidad (Community) beschreibt, wie Gemeinschaftlichkeit von staatlichen Institutionen, paramilitärischen Gruppen und organisierter Kriminalität fragmentiert wird, aber auch, wie diese eine Gegenkraft zum Neoliberalismus in all seinen Facetten sein kann. Abschließend wird im Teil Memoria (Erinnern) beschrieben, wie Erinnern die Gewalt aufarbeiten und unterbrechen kann und im besten Fall dafür sorgt, dass sich diese nicht wiederholt.

Theoretische Beiträge, Interviews und Erfahrungsberichte

Obwohl sich die Autoren manchmal auf Theorien beziehen, die eher Fachleuten zugänglich sind, eignen sich die meisten Beiträge auch für Menschen ohne gesellschaftswissenschaftlichen Hintergrund. Zu Wort kommen Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Journalismus, Medizin und politischem Aktivismus, wodurch die Beiträge sehr abwechslungsreich sind. Neben theoretischen Abhandlungen sind auch Interviews und Erfahrungsberichte abgedruckt. Die Übersetzung aus dem Spanischen oder dem brasilianischen Portugiesisch wirkt allerdings etwas sperrig.

Die Beiträge können einzeln gelesen werden. Wenn man sie aber in der vorgegebenen Reihenfolge liest, fügen sie sich zu einem Gesamtwerk, das umfassender ist als seine Einzelteile. Zum Beispiel wird erst im Laufe das Buches klar, wie vielschichtig der Begriff „Geografie“ im Kontext der Gewalt ist: Es geht um „Zonen des Schweigens“, das Kartografieren von Massengräbern und die Verbindungen zwischen Gewalthandlungen an Körpern und Territorien. Und das Buch handelt davon, lokale Schauplätze der Gewalt im globalen Kontext zu betrachten. Zudem zeigt es Möglichkeiten des Widerstandes auf: Aus einem Rückbezug auf das Gemeinschaftliche können politische Bewegungen erwachsen und wer Gewalt sichtbar macht, kann eine Kultur schaffen, in der sie nicht straffrei bleibt.

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