Hungerlöhne, Scheinverträge und die Mafia

Der Luxemburger Ethnologe Gilles Reckinger hat viel Zeit mit afrikanischen Flüchtlingen verbracht, die auf süditalienischen Orangenplantagen arbeiten. In seiner Reportage dokumentiert er deren schamlose Ausbeutung.

Rosarno liegt im Südosten Kalabriens, wo die Straße von Messina den italienischen Stiefel von Sizilien trennt. Das Städtchen ist umgeben von Plantagen, die den europäischen Markt mit Orangen und Mandarinen versorgen. Die afrikanischen Flüchtlinge, die hier leben und arbeiten, haben die riskante Bootsfahrt über das Mittelmeer überlebt und kämpfen nun um ihr wirtschaftliches Über­leben.

Die Sommer sind heiß und trocken, die Winter nass. Um eine Orangen- oder Mandarinenfarm zu betreiben, braucht es nur noch menschliche Arbeitskraft. Allerdings ist der Weltmarktpreis für Orangen in den vergangenen Jahren stark gefallen. Zu den Löhnen, die in Rosarno gezahlt werden, sind die Einheimischen längst nicht mehr bereit zu arbeiten – obwohl die Arbeitslosigkeit in Kala­brien hoch ist. In den 1990er Jahren holte man Saison-Arbeitskräfte aus Osteuropa, inzwischen verlässt man sich auf afrikanische Flüchtlinge.

Preise und Löhne diktieren die Zwischenhändler, wie der Autor berichtet. Afrikanische Erntearbeiter werden oft ohne legale Arbeitsverträge angeheuert und bekommen für zwölf Stunden Arbeit täglich weniger als die ebenfalls prekär beschäftigten Rumänen. Zudem können sie jederzeit entlassen werden. Manch ein Plantagenbetreiber melde statt der afrikanischen Erntehelfer eigene Angehörige mit Scheinverträgen an, damit sie nach der Saison Anspruch auf Arbeitslosengeld haben.

Auch die kalabrische Mafia, die ’Ndrangheta, hat dabei ihre Finger im Spiel, wie man vor Ort munkelt.
Gilles Reckinger hat bereits 2013 ein Buch über den Umgang mit Flüchtlingen auf der Insel Lampedusa geschrieben. Er kennt die Lager, in denen sie unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen und in denen sich Weiße kaum blicken lassen. Dort leben Sudanesen, Ghanaer und Burkinabé, die die Gesellschaft ihrer Landsleute suchen und kleine Kolonien bilden. Viele, so der Autor, wussten nicht, wohin genau das Boot, das sie in Sicherheit bringen sollte, unterwegs war. Aber sie wissen: Wer beim ersten Interview vor der Asylbehörde verschweigt, dass er Arbeit sucht, hat bessere Chancen, als Kriegsflüchtling anerkannt zu werden. Letzten Endes aber brauchen alle Geld und lassen sich auf den Plantagen anwerben. Ihre Angehörigen zu Hause erwarten, dass sie Geld schicken. So geht der bescheidene Lohn für Telefongespräche und Devisensendungen drauf.

Was Reckinger im Reportagestil schildert, ist nicht neu, aber umfangreich recherchiert. Er hat die Region zur Erntezeit, zur Regenzeit und nach der Saison besucht, Freundschaften geschlossen und hält zu einigen der Gestrandeten nach wie vor telefonisch Kontakt. Sein Resümee: Obwohl Mi­gration in der öffentlichen Diskussion mehr und mehr abgelehnt wird, nutzt die europäische Wirtschaft deren ökonomisches Potenzial schamlos aus. Die systematische Abwertung der Migrantinnen und Migranten legitimiert deren Beschäftigung zu menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und macht sie möglich. Mit seinen teils sehr persönlichen Schilderungen erreicht Gilles Reckinger, dass der Orangensaft oder die preisgünstige Mandarine, die wir im Supermarkt kaufen, tatsächlich bitter schmecken.

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