Milliarden arme Menschen leben mit der täglichen Angst, Opfer von Kriminalität und Gewalt zu werden. Von Polizei und Justiz erwarten sie eher Ärger als Hilfe, schreiben Gary Haugen und Victor Boutros. Ein Zustand, der Entwicklungschancen zunichtemacht.
Welche Anstrengungen auch immer unternommen werden, um den Hunger zu bekämpfen oder die Menschenrechte zu verwirklichen – angesichts der Gewalt, der arme Menschen weltweit ausgesetzt sind, können sie nur scheitern. Das ist das dunkle Fazit der beiden Autoren. Es geht ihnen keinesfalls um Gewalt im Zuge von Kriegen und anderen Konflikten. Sie richten ihren Fokus auf jene Milliarde Arme, die in „relativ stabilen“ Ländern und Schwellenländern leben, für die Gewalt aber dennoch zum Alltag gehört. Fehlende Gesetze sind nicht der Grund. Fast alle Staaten, von denen im Buch die Rede ist, haben die internationalen Menschen- und Sozialrechtskonventionen samt Zusatzprotokollen ratifiziert. Nur: Es gibt niemanden, der sie durchsetzt.
So werden, wie die Autoren schreiben, in Bolivien Jahr für Jahr mehrere Zehntausend Kinder Opfer von Missbrauch. Dennoch gelinge es der bolivianischen Justiz nicht, mehr als drei Täter jährlich zu verurteilen. Damit sei es, so die zugespitzte Feststellung, für einen Sexualstraftäter statistisch wahrscheinlicher, unter der Dusche zu verunglücken oder auf der Straße überfahren zu werden, als irgendwann in Haft zu landen.
Haugen und Boutros sprechen von Unrecht als System, vom systemischen Versagen von Polizei, Justiz und der politisch Verantwortlichen. Die sorgfältig recherchierten Fallbeispiele aus Afrika, Asien und Lateinamerika, die allesamt aus der Arbeitspraxis der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission (IJM) stammen, sind keine Geschichten mit Happy End. Stattdessen illustrieren sie, wie chancenlos Gewaltopfer oft gegenüber der Straflosigkeit der Täter sind. Sie legen die strukturellen Ursachen für dieses Systemversagen dar: Korruption, Desinteresse und Inkompetenz bei Ermittlungen, chronisch überforderte, schlecht ausgebildete, prekär ausgestattete und unterbezahlte Strafverfolger.
Gary A. Haugen kommt aus der Bürgerrechts-Anwälte-Bewegung der USA, Victor Boutros ist US-Bundesstaatsanwalt und leitet eine Strafverfolgungseinheit, die sich mit Menschenhandel und Korruption in Polizei und Justiz beschäftigt. Ihre engagierte Analyse über versagende Rechtssysteme enthält sich jeglichen besserwisserischen Untertons. Bereits in der Einleitung stellen die beiden nüchtern fest, dass es keine Form von systematischem Missbrauch, Brutalität, Korruption und Diskriminierung armer Opfer gibt, die sie nicht bereits in der US-Justiz erlebt hätten. Ihr Anliegen ist also nicht, westliche Systeme von Polizei und Gerichtsbarkeit als heilbringende Exportprodukte zu bewerben. Sie plädieren für örtlich erarbeitete Lösungen im Zusammenspiel mit bekannten „Best Practices“ wie beispielsweise der radikalen Polizei- und Justizreform, die zwischen 2005 bis 2012 in Georgien durchgezogen wurde. Im Zuge einer neuen Null-Toleranz-Politik gegen Korruption wurde dort der komplette Strafverfolgungsapparat umstrukturiert, außerdem wurden nahezu alle – bis dato oft sehr korrupten – Verkehrspolizisten des Landes ausgewechselt. Bei derlei Maßnahmen geht es immer auch darum, wie Gewaltopfer zu Wort kommen und ob ihre Erlebnisse gehört werden und in Diagnosen über Missstände einfließen.
Damit ein solcher Ansatz funktioniert, muss die Staatengemeinschaft den Kampf gegen Gewaltkriminalität und Straflosigkeit als vorrangige Aufgabe anerkennen und in Reformen der öffentlichen Rechtssysteme, Schulungen, Opferschutz und Korruptionsbekämpfung bei der Polizei investieren. Bislang – und das ist die nicht wirklich ermutigende Nachricht am Ende dieser faktenreichen Analyse – geben bestenfalls einige Modellprojekte wie etwa das georgische zur Erneuerung von Rechtstaatlichkeit und Verbesserung von Rechtsicherheit Anlass zur Hoffnung. Der universale politische Wille, diese „Fessel der Armen“, von der Haugen und Boutros sprechen, wirklich zu lösen, ist noch nicht erkennbar.
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