Hintergrund zum Putschversuch

Das Manuskript für dieses Buch lag druckfertig im Verlag, als im Juli ein Teil der Armee gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan putschte – und niedergeschlagen wurde. Die aktuellen Ergänzungen des Autors machen den Band brandaktuell, doch seine Stärke liegt in den Hintergrundinformationen.

Was der Autor über den Putschversuch und die darauf folgende „Säuberungswelle“ an Schulen, Gerichten, im öffentlichen Dienst und in der Armee schreibt, geht über den Informationsstand wenige Tage nach dem Putschversuch nicht hinaus. Doch seine Hintergrundinformationen machen die Entwicklung der Türkei im 21. Jahrhundert verständlich.

Jürgen Gottschlich zeigt, wie der ebenso charismatische wie schwerreiche Imam Fetullah Gülen in der Türkei schon lange eine prägende Rolle spielt. Immerhin war der heutige Staatsfeind Nummer eins, dem Präsident Erdogan alle Übel dieser Welt zuschreibt, einst dessen unentbehrlicher Verbündeter. Ohne die Strukturen und das akademisch gebildete Personal von Gülens „Gemeinde“ hätte die islamistische AKP, die von außerhalb des politischen Establishments kam, ihre Macht kaum festigen und ausbauen können. Von dem über Fernsehkanäle und Schulen verbreiteten Einfluss des Predigers profitierte Erdogan, bis er selbst stark genug war, um sich von Gülen zu emanzipieren.

Der Autor, Journalist und Mitgründer der Berliner „tageszeitung“, beschreibt Recep Tayyip Erdogan als Mann, der von ganz unten kommt und seine Machtphantasien nunmehr nach Herzenslust ausleben kann. Nicht nur in einem kitschigen Protzpalast in Ankara, sondern auch mit seiner zynischen Kurdenpolitik, die einen Friedensdialog nur so lange verfolgte, wie er wahltaktisch nützlich war. Wir erfahren aber auch, warum dieser Mann, der in Europa als selbstverliebter Autokrat dargestellt wird, von so vielen Menschen Zuspruch erfährt.

Er hat nämlich für seine Klientel, die Menschen in den Slums der Großstädte und die Migranten aus der heruntergekommenen Provinz, Konkretes geleistet. In den Armenvierteln finden sie heute menschenwürdigen Wohnraum, einen Stromanschluss und gepflasterte Straßen vor. Sie haben dank einer günstigen Pflichtversicherung Anspruch auf medizinische Betreuung und Zugang zu den Universitäten. Im Gegenzug sei es diesen Leuten völlig gleichgültig, „ob Erdogan dissidente Journalisten in den Knast steckt, die Justiz aushebelt und durch und durch korrupt ist“.

Dass den Kurden ein ausführliches Kapitel gewidmet wird, kommt nicht nur dem Interesse deutscher Leser an dieser wichtigsten Minderheit entgegen, es trägt auch der Tatsache Rechnung, dass der Bürgerkrieg mit der marxistischen PKK die vergangenen Jahrzehnte geprägt hat. Ein Portrait des PKK-Anführers Abdullah Öcalan zeichnet ein differenziertes Bild des Mannes, der von seinen Anhängern in einem seltsamen Führerkult verehrt wird und seit seiner Festnahme 1999 „eine Figur wie Arafat und Mandela in einem“ geworden sei.

Gut die Hälfte des Buches ist eine leicht aktualisierte Neuauflage des 2008 erschienenen Vorgängerbandes, aus dem man alles über Alltag und Kultur in der Türkei, ihr Verhältnis zu den Deutschen und zum Fußball, die gesellschaftlichen Einschränkungen für Frauen und die Geschichte des Osmanischen Reiches erfährt. Insgesamt ist der neue Band nun eine lohnende Lektüre für alle, die die heutige Türkei zwischen Islamismus und EU-Beitrittsverhandlungen verstehen wollen.

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