Dynamik der Radikalisierung

In dem Sammelband gehen Soziologinnen, Kriminologen, Philosophinnen und Historiker der Frage nach, wie „normale Menschen“ dazu kommen, in einer Gruppe spontane Gewalttaten zu verüben. Das Ergebnis ist beeindruckend, denn offensichtlich gibt es  dabei Gesetzmäßigkeiten, deren Kenntnis Voraussetzung für ein Gegensteuern ist.

Am 29. April 1992 fanden sich in Los Angeles binnen kürzester Zeit Menschenmassen zusammen, die plünderten, Autos anzündeten und Passanten angriffen. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass weiße Polizisten, die im Vorjahr gemeinsam auf einen Schwarzen eingeprügelt hatten, von einer weißen Jury freigesprochen worden waren.

Die Unruhen hielten Tage lang an und entwickelten eine solche Eigendynamik, dass die Polizei sich zurückzog und den Plündernden das Feld überließ, wie der kalifornische Soziologe Jack Katz in seinem Aufsatz schreibt. Ein Einzelner, der sich dem Aufstand anschloss, wurde in der Masse unsichtbar und blieb unbehelligt. Die Stimmung wurde von TV-Hubschraubern zusätzlich angeheizt.

Diese Art von Eigendynamik spontaner kollektiver Gewalt thematisiert auch Felix Schnell, Historiker an der Universität von Essex, in seiner Fallstudie über den Aufstand im südrussischen Dorf Chvorostan im Sommer 1918. Die Selbstverteidigung des russischen Dorfes gegen Plünderer und Überfälle war an der Peripherie des Zarenreiches gang und gäbe, denn die Zentralmacht war weit weg. Als die Bolschewiki im Bürgerkrieg Abgaben in Chvorostan eintreiben wollten, griffen die Bauern unbewusst zu einem ‚hidden transcript‘, zur altbewährten Methode der Feindabwehr, vertrieben einen Trupp der Bolschewiki und töteten den Anführer. All das machte ein Zurück unmöglich und löste eine Kettenreaktion aus: Gewalt erzeugte Gegengewalt, Bauern aus den umliegenden Dörfern taten sich zusammen und besiegten einen Trupp aus 200 Matrosen. Die Bolschewiki schickten daraufhin ein ganzes Regiment und sorgten für die totale Niederlage der Rebellen.

Die Basler Soziologen Paul und Schwalb sprechen von einer „Institutionalisierung von Gewaltkollektiven“, von der Existenz eines feindlich eingestellten sozialen Umfeldes, das die eigenen Gewalttaten rechtfertige. Deren Auswirkungen wiederum verengen den eigenen Handlungsspielraum und „drängen die Akteure in die einmal eingeschlagene Richtung“. Diese so genannte „Pfadabhängigkeit“ führt zu einer Eskalation und Radikalisierung auf beiden Seiten, schreiben die Autoren, die eine friedliche Beilegung des Konfliktes in weite Ferne rücken lässt und zudem die „soziale Identität der Gewalttäter als Gewalttäter“ verhärtet.

Die Motivation für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Fragen des nicht immer leicht zu lesenden Buches liegt auf der Hand: Die Autoren möchten für das weltweite Phänomen der omnipräsenten Gewalt Orientierung und Erklärungsansätze liefern. Dahinter steckt der Glaube, dass Probleme nur dann gelöst werden können, wenn man weiß, wo der Schuh drückt, wenn man sie verstehen kann. Zumindest kann man lernen, welche Handlungen und Reaktionen unterbleiben sollten, um Gewalteskalationen und Pfadabhängigkeiten zu vermeiden. Doch hinterher ist man immer schlauer. Der Konflikt in Chvorostan endete in der Katastrophe. Das Dorf wurde vernichtet, die Aufständischen erschossen.

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