Kinderarbeit: Genau hinschauen

Der Journalist Georg Wimmer analysiert, warum Mädchen und Jungen in vielen Ländern zum Familienunterhalt beitragen. Er warnt davor, das Phänomen pauschal zu verteufeln und liefert damit den Anstoß für eine notwendige gesellschaftliche Debatte.

Seit August dürfen in Bolivien Kinder ab zehn Jahren arbeiten. Zwölfjährige können sogar angestellt werden, solange Schulbesuch und Gesundheit gewährleistet sind. Ein Sturm der Entrüstung folgte in vielen internationalen Medien auf die Verabschiedung des Gesetzes. Wimmer nennt es einen „Schritt in die richtige Richtung“. Er plädiert für eine differenzierte Betrachtung des Phänomens, das weltweit etwa 85 Millionen Minderjährige betrifft. Es sei falsch, Sklavenarbeit in Teppichfabriken und Kinderprostitution mit Straßenverkauf oder leichter landwirtschaftlicher Arbeit in einen Topf zu werfen.

Wimmer hat für sein Buch zahlreiche Interviews mit arbeitenden Kindern geführt. Er versucht, herauszufinden, warum sie sich gezwungen sehen, zum Familienerhalt beizutragen. Armut ist die offensichtlichste Ursache. Wimmer weist aber auch nach, dass Mädchen und Jungen die Schule oft aus guten Gründen meiden; „Schulen in den Ländern des Südens, das sind oft schummrige Plätze ohne elektrisches Licht, ohne Trinkwasser und ohne Toiletten“. Und weiter: „Die Lehrer sind – wenn überhaupt – schlecht ausgebildet, unterbezahlt und entsprechend motiviert“.

Ferner gebe es in zahlreichen Ländern so etwas wie eine Kultur der Kinderarbeit. Die Menschen in Thailand oder auf den Philippinen sähen es als selbstverständlich an, dass Minderjährige den eigenen Unterhalt verdienen. Schließlich dürfe man nicht übersehen, dass abwesende Väter meistens Familien ohne Halt hinterlassen – was vor allem in Lateinamerika sehr verbreitet ist, wie Wimmer schreibt. Wenn die Frau auf dem Markt arbeitet, „so hat sie gar keine andere Wahl, als die kleineren Kinder mit zur Arbeit zu nehmen und ihnen allmählich diverse Tätigkeiten zu übertragen“.

Wimmer ist gegen eine strikte Ächtung von Kinderarbeit. Ausbeuterische Formen seien ohnedies durch Gesetze verboten. Wie die Kinderhilfsorganisation Terre des Hommes tritt er für „würdige Arbeit“ ein, bei der Kinder entsprechend ihrem Alter und ihren Fähigkeiten mitarbeiten. Organisationen von arbeitenden Kindern selbst fordern faire Bezahlung und menschliche Arbeitsbedingungen. Das bolivianische Gesetz haben Mädchen und Jungen erkämpft. Als das Parlament im Dezember 2013 auf internationalen Druck die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren gesetzlich verbieten wollte, demonstrierten mehrere hundert Kinder und wurden von der Polizei mit Tränengas auseinandergetrieben. In Bolivien, wo jedes vierte Kind arbeitet, wäre das Verbot weit an der sozialen Realität vorbeigegangen.

Wimmers Buch liefert eine Fülle von Fakten und kann Menschen zum Nachdenken bringen, die Kinderarbeit bisher grundsätzlich verurteilt haben. Es dient als Anstoß zu einer Debatte, die bisher nur in engen Kreisen geführt wurde, aber eine größere Öffentlichkeit verdient.

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