Die größte Flüchtlingskatastrophe in der modernen Geschichte des Nahen Ostens stellt die Menschlichkeit Europas auf die Probe. Zwei Bücher berichten vom Horror der Flucht nach Europa und der Kriminalisierung von Fluchthelfern in Deutschland.
„Das Mittelmeer ist die Geburtsstätte Europas und mittlerweile Schauplatz seines größten Versagens.“ So urteilt der „Zeit“-Journalist Wolfgang Bauer über die Tragödie, die sich seit Jahren vor den Küsten des europäischen Kontinents abspielt. Für seine Reportage hat sich Bauer zusammen mit dem tschechischen Fotografen Stanislav Krupar in die Hände von nordafrikanischen Menschenschmugglern begeben. Getarnt als Flüchtlinge aus dem Kaukasus schließen sie sich einer Gruppe von Syrern an, die von der Küste Ägyptens die Überfahrt nach Europa wagen wollen.
Unter ihnen ist Amar, Vater dreier Töchter aus dem syrischen Homs. Bauer besucht ihn in seiner Übergangswohnung in Kairo, beschreibt den Abschied von Frau und Kindern und bringt dem Leser Amars Schicksal ganz nah. Ausgangspunkt der Flucht ist die Hafenstadt Alexandria, in der eine Reihe von Schmugglerbanden das Geschäft mit den Flüchtlingen kontrolliert. Was Bauer in den nächsten Wochen dieser Odyssee erlebt, liegt jenseits der Vorstellungskraft.
Eine Nacht nach der anderen werden die Flüchtlinge wie Vieh unter vorgehaltenen Gewehren durch die Stadt getrieben. Zermürbend ist das Warten auf die immer wieder verschobene Überfahrt. Am Ende gerät die Gruppe in einen Konflikt zwischen zwei verfeindeten Schmugglerbanden. Die Flüchtlinge werden entführt und tagelang in einer verdreckten Wohnung eingesperrt. Als das Boot endlich bereit ist, werden sie nach wenigen Kilometern von der ägyptischen Küstenwache festgenommen und in ein völlig überfülltes Gefängnis gebracht.
Auch nach seiner Rückkehr ins sichere Deutschland dokumentierte Bauer das Schicksal der Flüchtlinge weiter, die zu Freunden geworden sind. Sein Buch zeigt, dass die traumatischen Strapazen eines Bootsflüchtlings nicht mit der Überfahrt beginnen und auch nicht mit ihr zu Ende gehen. Es macht deutlich, wie Flüchtlinge zwischen den mafiösen Strukturen der Schmuggler, den Staatsmächten am südlichen Mittelmeer und einer desaströsen europäischen Asylpolitik zerrieben werden. Das Buch rückt in die Nähe, was oft fern erscheint, und ist ein eindrücklicher Appell an die Menschlichkeit.
Eine ähnliche Wirkung erzielt das Buch „Die neuen Staatsfeinde“ von Stefan Buchen, Reporter beim ARD-Recherchemagazin „Panorama“. Er beschäftigt sich mit der Kriminalisierung von Fluchthelfern in Deutschland. Anhand des Falles des deutsch-syrischen Ingenieurs Hanna L., der zwischen 2013 und 2014 vor dem Essener Landgericht verhandelt wurde, wirft Buchen ein Licht auf den schonungslosen Umgang der deutschen Behörden mit den so genannten Schleusern.
Die deutsche Justiz ist in den vergangenen Jahren hart gegen Helfer von syrischen Kriegsflüchtlingen vorgegangen. Ein Grund ist die immer stärkere Verzahnung von Sicherheits- und Migrationspolitik in Deutschland seit dem 11. September 2001: Die Abteilung für Terrorismusabwehr beim Bundesnachrichtendienst BND ist gleichzeitig für illegale Migration zuständig.
Buchen hat Berge von Akten und Protokolle studiert, er hat mit allen Beteiligten gesprochen und enthüllt verheerende Fehler in der deutschen Flüchtlings- und Migrationspolitik. Sein Fazit: Hanna L. und seine Kollegen hätten nie als Schwerverbrecher verurteilt werden dürfen – zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldbuße von 110.000 Euro.
Zweifellos gebe es Schleuser, die in Missachtung der Menschenwürde Kapital aus dem Leid der Flüchtlinge schlagen, schreibt Buchen. Doch viele Fluchthelfer handelten auch aus ehrlichen Motiven, wollten Verwandten, Freunden oder Bekannten zu einem Leben in Sicherheit verhelfen. Buchen plädiert für mehr Urteilsvermögen und für eine Justiz, die den menschlichen Faktor nicht einfach ignoriert. Seine ausgezeichnete Recherche stellt unbequeme Fragen an ein Land, das hinter seinen Ansprüchen als Rechtsstaat zurückzufallen scheint.
Marian Brehmer
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