Die Muslimbrüder sind zu Shootingstars der internationalen Literaturszene avanciert. Seit sie 2012 in Ägypten an die Macht kamen und ein Jahr später wieder entthront wurden, sind sie nicht nur für Journalisten und Politologen ein interessantes Studienobjekt geworden. Auch Verlage sehen in ihnen ein Potenzial für Verkaufsschlager.
In den vergangenen Monaten sind zahlreiche Bücher über die Bruderschaft erschienen und alle rühmen sich damit, unbekannte Einblicke in ihr Innenleben zu geben. Annette Ranko, Petra Ramsauer und Hazem Kandil setzen vor allem auf Interviews mit und Porträts von Mitgliedern der Muslimbruderschaft. Dafür haben sie sich viel Zeit genommen – und das ist gut so. Wer gerne Biographisches und Persönliches liest, dem seien alle drei Bücher gleichermaßen empfohlen.
Wer aber darüber hinaus einen Erkenntnisgewinn haben will, wird von Ranko, Ramsauer und Kandil unterschiedlich gut bedient. Die Politologin Ranko legt eine solide politikwissenschaftliche Studie vor zum Aufstieg und Fall der Muslimbrüder. Flüssig geschrieben und gut strukturiert spannt sie den Bogen von den Anfängen der Bewegung Ende der 1920er Jahre bis in die Gegenwart, wobei sie ihren Schwerpunkt auf die Zeit von 2011 bis nach dem Fall des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi legt. Unaufgeregt analysiert sie die Stationen in der jüngsten Geschichte der Muslimbruderschaft, in denen die Organisation mal Spielball der Mächtigen, mal selbst politischer Drahtzieher war.
Lesenswert ist vor allem ihr Schlusskapitel, in dem sie der Frage nach dem wahren Gesicht der Muslimbrüder nachgeht. Kann man ihrer 1981 bereits offiziell verkündeten Absage an die Gewalt glauben? Ranko erliegt nicht der Versuchung einer schnellen und endgültigen Antwort. Sie lässt die Frage bewusst offen und bewertet auch nicht, wie im politischen Feuilleton üblich, das drakonische Vorgehen der neuen Regierung unter Abdel-Fattah Al-Sisi gegen die Muslimbrüder. Vielmehr plädiert sie dafür, es „allein dem Land am Nil zu überlassen, auf welchem Wege und mit welchen Umwegen“ es Rechtstaatlichkeit und Demokratie erreichen will.
Auch Petra Ramsauer will mit ihrem Buch über die Muslimbrüder nur Fakten präsentieren. Wer ihr Buch lese, um Vorurteile bestätigt zu finden, werde enttäuscht werden, schreibt sie gleich zu Beginn. Enttäuscht wird aber auch, wer sich wenigstens eine Einordnung der jüngsten Entwicklungen rund um die Muslimbrüder erhofft hat. Über die Erkenntnis eines eingangs zitierten Verfassungsschützers, dass der Wunsch, die Bruderschaft einzuordnen dem Unterfangen gleich komme, einen Pudding an die Wand zu nageln, kommt das Buch nicht hinaus.
Am Ende lässt die Autorin den Finanzchef der Organisation sprechen, der ihr in den Block diktierte: „Nichts, was jemals über die Muslimbruderschaft geschrieben worden ist, stimmt. Das Netzwerk ist nicht zu verstehen.“ Das führt zwangsläufig zu der Frage, warum man überhaupt die knapp 200 Seiten gelesen hat. Haften bleibt das Kapitel, in dem Ramsauer auf die Rolle der Frauen bei den Muslimbrüdern eingeht. Darüber gibt es bisher nicht viel. Und als Verdienst ist ihr ebenfalls anzurechnen, dass sie einen besonderen Fokus auf Libyen wirft, wo der Machtkampf noch offen ist. Auch für die Muslimbrüder ist das ressourcenreiche Nachbarland interessant.
Als Highlight auf dem politischen Büchermarkt darf dagegen Hazem Kandils „Inside the Brotherhood“ gesehen werden. Der ägyptischstämmige Soziologe verlässt in seinem Buch die ausgetretenen Pfade der Politikwissenschaft und hält sich nicht mit der Analyse von offiziellen Grundsätzen, Organisationsstruktur und politischen Aktionsmustern auf. Er geht der Frage nach, inwiefern die eigene Ideologie für den Aufstieg und Fall der Muslimbrüder verantwortlich ist. Er möchte wissen, wer sie wirklich sind und wie sie ihre Beziehung zum Göttlichen sehen. Diese Fragestellung ist neu und sticht bei allem, was bisher über die Muslimbrüder geschrieben wurde, wohltuend heraus.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1928 wirbt die Muslimbruderschaft mit dem Slogan „Der Islam ist die Lösung“. Religiöser Determinismus bestimmt ihre Ideologie: Weltlicher Erfolg hängt von der religiösen Hingabe des einzelnen ab. Gutes kann demnach nur guten Menschen passieren, was sich in der Lesart der Muslimbrüder auf den Glaubenssatz reduziert, dass nur von guten Muslimen Gutes ausgehen kann. Auf dieser ideologischen Grundlage konnten die Muslimbrüder über Jahrzehnte hinweg in der Bevölkerung ihren Ruf als politische und soziale Alternative aufbauen.
Es sei bemerkenswert, schreibt Kandil, wie sie dann in weniger als einem Jahr diesen Ruf wieder verspielt haben. In Ägypten habe der Islamismus seine historischen Wurzeln und zugleich habe ihm hier zum ersten Mal in der Geschichte eine breite Masse die rote Karte gezeigt. Einmal an der Macht wurde den Muslimbrüdern die eigene Ideologie zum Verhängnis. Sie waren unfähig, mit Andersdenkenden Koalitionen und Kompromisse zu schließen.
Kandil zeigt damit einen neuen Weg im Umgang mit den Muslimbrüdern auf. Es geht nicht darum, Menschen oder Organisationen zu verurteilen oder sich mit ihnen zu solidarisieren, sondern vielmehr darum, ideologische Engführungen offenzulegen und zu überwinden. Entsprechend hat er sein Buch all den Muslimbrüdern gewidmet, „die die Kraft hatten, Mauern hochzuklettern, um auf die andere Seite zu schauen“.
Katja Dorothea Buck
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