Der Fußball gilt als ideales Kommunikationsmittel: Fast jeder kann etwas dazu sagen. Was brasilianische Autoren meinen, lesen Sie hier.
Vielerorts befeuern Intellektuelle und Literaten die Debatten über den Fußball oder verarbeiten kreativ das Material, das von Spielern und Fans in die Welt gesetzt wird. Doch erstaunlicherweise gibt es in Brasilien, das die Weltmeisterschaft bereits fünf Mal gewonnen hat, nur relativ wenig belletristische Titel mit unmittelbarem Bezug zur populären Sportart. Das streicht etwa Luiz Ruffato heraus, der im Vorfeld der WM Mitstreiter für ein Lesebuch mit neuen Fußball-Geschichten gesucht hat. Einige Vertreter früherer Schriftsteller-Generationen hätten sogar aktiv gegen den Sport angeschrieben.
Die meisten Texte in dem von Ruffato herausgegebenen Band „Der schwarze Sohn Gottes“ gehen über eine schlichte Heldenverehrung weit hinaus. Ronaldo Correia de Brito erzählt in dem autobiographisch gefärbten Text „Schlachthof“ von der Bekanntschaft mit einem grobschlächtigen Spieler, der aus der Werksmannschaft der Metzger heraussticht. Dem Mann, der wochentags Schweinehälften zerteilt, wird eine große Profikarriere vorausgesagt. Doch das ist kaum mehr als Wunschdenken. Im Fußball steckt stets die Möglichkeit, grandios zu scheitern.
Ein falsches Bild haben sich die Fans auch vom Spielerstar Casquinha in Mário Araújos Geschichte gemacht. In einem erzählerischen Dreischritt wird er zunächst als genialer Balltreter vorgestellt, ehe aus seiner „Autobiographie“ zitiert wird, in der alle Platituden enthalten sind, die die Öffentlichkeit von erfolgreichen Personen einfordert. Schließlich kommt heraus, welches Leben er tatsächlich geführt hat – und dass an dessen Ende eine Überdosis Kokain stand.
Das Scheitern und die Vergänglichkeit von Ruhm
Wie die Faszination Fußball die Menschen bisweilen ihre Augen vor der Wirklichkeit verschließen lässt, zeigt Elaine Brum in „Raimundo und der Ball“. Ihre Titelfigur wächst in Amazonien auf und hat weder vom Fußball noch von ökonomischen Zusammenhängen konkrete Vorstellungen. Ein Fremder führt ihn an das Spiel heran und verspricht, dass eines Tages eine Mannschaft vorbeikommen werde, mit der Raimundo gemeinsam kicken darf. Stattdessen rücken Männer mit schweren Gerätschaften an und roden rücksichtslos die wertvollen Tropenhölzer in seiner Siedlung.
Anlässlich der WM ist ein bereits 2006 zusammengestellter Band mit elf Short Storys ins Deutsche übertragen und unter dem Titel „Samba Goal“ veröffentlicht worden. Mehrere Texte drehen sich um das Scheitern und die Vergänglichkeit von Ruhm. Antonio Carlos Olivieris Ich-Erzähler in „Viva Maradona!“ wird von unbändiger Freude erfasst, wenn die brasilianische Nationalmannschaft verliert. Also feuert er insgeheim die Gegner der Seleção an, am liebsten die Erzrivalen aus dem benachbarten Argentinien. Selbstredend, dass er bei seinen Landsleuten nicht auf Verständnis hoffen kann.
Der schönste Text ist wohl „Der letzte Straßenkick des Mané Garrincha“ von Domingos Pellegrini, in dem sich zwei wichtige Elemente der Kommunikation über den Fußball in Brasilien kreuzen: die Liebe zu den absoluten Stars am Fußball-Firmament und die Begeisterung für die ursprüngliche Form des Straßenfußballs.
Pellegrini schreibt über einen alten Mann mit fürchterlichen X-Beinen, der stark an Mané Garrincha erinnert, den hinter Pelé meistverehrten Spieler des Landes. Der wahre Garrincha starb nach Alkoholexzessen mit 49 Jahren.
Wie wäre es aber, wenn er zum Abschied gemeinsam mit den unbedeutenden Amateuren auf der Straße gekickt hätte und noch einmal ein paar seiner Tricks hätte zeigen können? Trotz kritischer Auseinandersetzung mit dem Sport liest sich diese literarische Begegnung mit einem Fußball-„Gott“ ebenso wundersam wie versöhnlich.
Wie friedlich läuft die WM ab?
Es ist nur ein kleiner Schritt von den kurzen literarischen Texten zu eher feuilletonistischen und reportagehaften Betrachtungen. Das zeigt der in Bayern geborene, seit 2002 in Rio de Janeiro lebende Soziologe Martin Curi in seinem gelungenen Einführungsbuch „Brasilien – Land des Fußballs“. Der Autor belegt die große Bedeutung des Sports, der in gesellschaftliche Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Kultur, Kunst und Religion hineinwirkt. Durch zahlreiche in der Öffentlichkeit weithin akzeptierten Annahmen und Legenden ist der Fußball eng mit dem nationalen Selbstbewusstsein verknüpft.
Für den Durchschnitts-Brasilianer, der, so Curi, oft unter einem Minderwertigkeitskomplex leidet, dabei aber nie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgibt, läuft dies auf eine klare Alternative hinaus: „Es gibt kein ‚nicht gewinnen‘, es gibt nur Siege und Niederlagen.“ Um die kontinentale Größe des Landes und die Funktionen des Fußballs als Kommunikationsmittel sinnvoll zu erfassen, schlägt der Autor mehrere thematische Schneisen, etwa die Einwanderung aus Europa als historische Bedingung für das rasante Aufkommen des Ballsports, die Wechselwirkungen zwischen Sport und Religion sowie den internationalen Spielerhandel beziehungsweise das Ausbildungswesen, das auf den „Export“ von Spielern angelegt ist.
Ein brasilianisches Sprichwort sagt: „Fußball steckt voller Überraschungen“. Und so bleibt es spannend, wie geordnet und friedlich die Weltmeisterschaft abläuft – und ob am Ende die Seleção den sechsten Titelgewinn perfekt macht. (Thomas Völkner)
Luiz Ruffato (Hg.)
Der schwarze Sohn Gottes. 16 Fußballgeschichten aus Brasilien
Assoziation A, Hamburg/Berlin 2013, 184 Seiten, 16 Euro
Samba Goal
Elf Geschichten aus Brasilien
DTV, München 2013, 143 Seiten, 9,90 Euro
Martin Curi
Brasilien. Land des Fußballs
Die Werkstatt, Göttingen 2013, 350 Seiten, 19,90 Euro
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