Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Das ist das Motto von Abdul, dem jugendlichen Müllsammler, der mit seiner Familie in Annawadi lebt, einem Slum am Rande der indischen Millionenstadt Mumbai. Seine Eltern wollen ihre Hütte neu und stabiler bauen, so dass sie beim nächsten Unwetter besser hält. Im Prinzip ist das vernünftig, Abdul ist trotzdem dagegen: Er und seine Familie sind Muslime, und Muslime werden in Annawadi wie überall in Indien von ihren Nachbarn grundsätzlich mit Argwohn betrachtet. Und der könnte durch ein neues, schöneres Haus eher noch gesteigert werden. Abdul findet, seine Eltern sollten ihm von dem Geld lieber einen iPod kaufen.
In diesem Buch sollte man das Nachwort der Autorin zuerst lesen. Dort stellt Katherine Boo klar, dass sie alles, was sie aus Annawadi berichtet, während ihrer fünfjährigen Recherche dort selbst erlebt, gesehen oder gehört hat. Das ist wichtig, weil man streckenweise nicht glauben mag, wie fürchterlich das Leben dort offenbar ist, wie gemein die Leute zueinander sein können und wie brutal die Habenichtse in Mumbai von den Reichen, der Politik und vor allem von der allgegenwärtigen Polizei ausgebeutet werden.
Eines Morgens findet Abduls Freund Sunil einen alten Müllsammler, der mit zerquetschtem Bein an der Straße zum Flughafen liegt. Der Mann jammert um Hilfe, aber Sunil geht einfach weiter. Katherine Boo schildert, wie im Laufe des Tages Dutzende Männer, Frauen und Kinder aus Annawadi an dem Alten vorbeigehen, auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule oder sonst wohin, und niemand sich kümmert. Am Nachmittag ist der Mann tot; Polizisten beauftragen andere Müllsammler, die Leiche in einen Polizeiwagen zu hieven, weil sie sie selbst nicht anfassen wollen.
Das Schockierende an Boos Buch ist, dass die Armen in Annawadi in ihrem Elend nicht etwa zusammenhalten oder sogar aufbegehren gegen die Ignoranz der „Oberstadt“, wie sie das Mumbai der Reichen und Mächtigen nennen. Stattdessen geben sie sich gegenseitig Schuld an ihrem Schicksal und lassen keine Gelegenheit aus, sich zu übervorteilen und zu quälen. Bei Katherine Boo bleibt nichts übrig von der romantischen Vorstellung vom gemeinschaftsbewussten Leben armer Menschen in Entwicklungsländern.
Wenn ausländische Journalisten zu Besuch kommen, trommelt Asha ein paar Frauen aus der Nachbarschaft zusammen und präsentiert sie als erfolgreiche Mikrokreditkundinnen
Boo porträtiert die Leute von Annawadi aber nicht einfach als bedauernswerte Opfer äußerer Umstände. Das knappe Dutzend Frauen, Männer und Jugendliche, um die sich ihr Buch dreht, sind Handelnde, die sich mit allen Tricks durchs Leben schlagen. Alle wollen etwas abbekommen vom anderen Indien, dem Indien des Wirtschaftswachstums, der aufstrebenden Mittelschicht und der obszön reichen Oberschicht. Für dieses andere Indien stehen in Boos Buch der moderne Flughafen und die feinen Hotels ringsherum, die ihren Müll jeden Tag buchstäblich auf Annawadi kippen.
Doch mit diesem anderen Indien sind die Leute von Annawadi hoffnungslos überfordert: Hier sind sie dann tatsächlich hilf- und wehrlose Opfer in einer für sie fremden Welt. Als der Streit von Abduls Familie mit einer Nachbarin eskaliert, diese sich mit Benzin übergießt, anzündet und später stirbt, werden Abdul und sein Vater ins Gefängnis gesteckt. Sie sind zwar unschuldig, können aber das von der Polizei geforderte Bestechungsgeld nicht zahlen. Es kommt zum Prozess, und dessen Verlauf dient Boo als Parabel für die Machtverhältnisse zwischen „Unterstadt“ und „Oberstadt“: Während so mancher vorgeladene Zeuge aus Annawadi glaubt, er könne das Verfahren nutzen, um die eine oder andere offene Rechnung mit Abduls Familie zu begleichen, ist die Richterin von Beginn an nur genervt und gelangweilt. Ihr einziges Ziel: Den Fall so schnell wie möglich loswerden, wie auch immer.
Kann man den Leuten von Annawadi helfen? Man kann es versuchen, sollte sich aber keinen Illusionen hingeben. Asha ist so etwas wie die Vorsteherin des Slums und leitet eine „Selbsthilfegruppe“ von Frauen, die Mikrokredite von der Regierung erhalten. Statt das Geld wie vorgesehen selbst zu nutzen, verleihen es die Frauen zu höheren Zinsen an ärmere Frauen weiter. Wenn ausländische Journalisten zu Besuch kommen, trommelt Asha ein paar Frauen aus der Nachbarschaft zusammen und präsentiert sie als erfolgreiche Mikrokreditkundinnen. Für Boo ist das die kleine Korruption, die den Armen in Indien geblieben ist, nachdem ihnen die große Korruption alle Möglichkeiten geraubt hat, ihr Leben aus eigener Kraft spürbar zu verbessern. (Tillmann Elliesen)
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