Die Aufstände in den Ländern der arabischen Welt haben ähnliche Ursachen und teilen bestimmte Voraussetzungen: autoritäre und verknöcherte Regime, wirtschaftliche Not und einen zunehmenden Gegensatz zwischen immensem Reichtum und schlimmer Armut. All dies wird noch verschärft durch die außerordentlich hohe Zahl junger Menschen in den arabischen Ländern, die für sich eine bessere Zukunft fordern. Doch die Konsequenzen werden nicht überall die gleichen sein. Die Demonstranten in Tunesien und in Ägypten, die für Demokratie eintreten, verwendeten rasch das Wort „Revolution“, um ihren verblüffenden Erfolg zu beschreiben, der darin bestand, die Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali und Husni Mubarak aus ihren Ämtern zu zwingen.
Autoren
Marina Ottaway
ist Direktorin des Programms für den Nahen und Mittleren Osten bei der Carnegie-Stiftung.David Ottaway
hat viele Jahre als Journalist in arabischen Ländern und in Afrika gearbeitet. Seit 2006 ist er am Woodrow Wilson International Center tätig.Tunesiens „Jasminrevolution“ und Ägyptens „Revolution vom 25. Januar“ haben der lange Zeit unterdrückten Stimme des Volkes in der autokratischen Politik der Region mit Nachdruck Gehör verschafft. Allerdings sind dem weder eine neue herrschende Klasse gefolgt, noch ein anderes System des Regierens, noch tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Veränderungen – all das, was im klassischen Sinn zu einer Revolution gehört. Und es bleibt abzuwarten, ob die Reformer das noch erreichen werden.
Die Demonstranten, die nach dem Freitagsgebet auf Kairos Tahrir-Platz und in die Avenue Bourguiba in Tunis strömen, erhalten völlig zu Recht ihren Druck aufrecht. Denn die eigentliche Arbeit liegt noch vor ihnen. Mubarak und Ben Ali sind weg, aber die Personen und Institutionen, die über den Übergang wachen, bleiben die gleichen – die alten Kumpane der ehemaligen Präsidenten und die Säulen der alten Regime. In beiden Ländern sind die gleichen, gut entwickelten bürokratischen Staatsapparate nach wie vor intakt, ebenso wie im Militär und bei den Sicherheitskräften. Sie alle stützten die autoritäre Herrschaft und sind offenbar entschlossen, die Dynamik zu drosseln, welche die Bewegung für die Demokratie bislang entfaltet hat. Ein Austausch der herrschenden Eliten und des Regierungssystems ist somit noch ein fernes Ziel.
Der Sturz Gaddafis dagegen könnte eine andere Sache sein. Er würde unausweichlich eine neue Führung und ein vollkommen anderes Regierungssystem zur Folge haben. Der launenhafte libysche Revolutionsführer glaubt tatsächlich „l’etat, c’est moi“, oder genau genommen vielleicht „l’etat, c’est ma famille“. Zwischen ihm und den Massen seines „Volksstaates“ – jamahiriya – gab es kaum vermittelnde Institutionen; und die wenigen, die es gab, waren bewusst zersplittert und unterlagen sorgfältiger Kontrolle.
Der Sturz des Hauses Gaddafi brächte das Risiko mit sich, dass der Staat vollständig zusammenbricht
Gaddafi hat keine politischen Parteien und keine zivilgesellschaftlichen Organisationen zugelassen. Er bezeichnet alles als „revolutionär“ oder aber „des Volkes“, um das Trugbild einer „direkten Demokratie“ aufzubauen. Sein System der Regierungsführung, das nicht auf einer Verfassung beruht, sondern auf einer Erklärung über die Errichtung der Herrschaft des Volkes, bestand aus 2700 lokalen „Basis-Volkskongressen“, die lediglich dreimal im Jahr zusammentraten. Sie entsandten Delegierte zu Staatskongressen, die ihrerseits die 760 Mitglieder des Allgemeinen Volkskongresses aufstellten, der sich nach Lust und Laune des großen Führers versammelte. Gaddafi nennt sein Kabinett das „allgemeine Volkskomitee“ und das Politbüro seiner nicht existierenden Partei den „Revolutionären Kommandorat“.
Wenigen Libyern hat sich erschlossen, wie dieses System überhaupt funktioniert. Als wir vor einigen Jahren den Versuch unternahmen, Klarheit zu erlangen, musste ein libyscher Diplomat passen – er wisse es wirklich nicht. Bei den komplexen revolutionären Ornamenten handelt es sich um einen dünnen Schirm, hinter dem Gaddafi Libyens heikle Stammespolitik manipuliert. Insbesondere drei Gruppen wurden begünstigt: der eigene Gaddafi-Stamm sowie die Maghraha und die Warfalla. Kein Libyer und kein Beobachter von außerhalb hat jemals geglaubt, dass irgend ein anderer als Gaddafi selbst (oder vielleicht einer seiner sieben Söhne) etwas entschieden hat.
Würde Gaddafi entmachtet, wäre es verlockend, sich darüber erleichtert zu zeigen und das Glück des libyschen Volkes zu bejubeln, sich vom alten Regime befreit zu haben – ohne sich mit dessen Überresten befassen zu müssen, wie es den Tunesiern und den Ägyptern nicht erspart bleibt. Doch leider würde der Sturz des Hauses Gaddafi für Libyen nicht nur das Ende seines Regimes bedeuten, sondern brächte das Risiko mit sich, dass der libysche Staat vollständig zusammenbricht.
Demokratie kann nicht aus dem Chaos heraus entstehen
Während Gaddafis langer Herrschaft wurde nichts dafür getan, Institutionen zu formen, die die Kontinuität des Staates nach einem Regimewandel gewährleisten. Es gibt keine gut organisierte Bürokratie. Und das Militär und die Sicherheitskräfte – jene Institutionen, auf die schwache Staaten zurückgreifen können, wenn es eng wird – wurden von Gaddafi bewusst in Milizen und Spezialbrigaden zersplittert, die von seinen Söhnen geführt werden, und denen als Gegengewicht eine große Prätorianergarde und verschiedene paramilitärische Gruppen gegenüberstehen. Entscheidend für den Ausgang der Entwicklungen in Tunesien, Ägypten und Libyen ist, ob es einen funktionierenden Staat gibt. Ohne Staat ist Demokratie unwahrscheinlich – wenn nicht unmöglich. Demokratie kann sich nur in einem Kontext funktionierender Institutionen herausbilden, nicht aus dem Chaos. Unglücklicherweise haben die starken staatlichen Institutionen auch die alten Regime getragen. Egal wie autoritär Mubarak oder Ben Ali gewesen sein mögen, sie haben nicht allein geherrscht. Ihre Regime bestanden aus mehreren Schichten und wurden von gewaltigen Sicherheitsapparaten und umfassenden Bürokratien unterstützt. Deren Zweck war es nicht zuletzt, Wahlsiege für die herrschenden Parteien zu organisieren.
In Ländern mit derart starken Staats- und Regimestrukturen gestaltet sich ein Wandel schwierig. Sowohl in Ägypten als auch in Tunesien könnte es passieren, dass sich gar nicht viel ändert und lediglich die Präsidenten und ihre Familien geopfert und die Führungsschicht der Politiker zu Sündenböcken erklärt werden. Doch das Manöver, den Wandel zu behindern, könnte misslingen, sollte es den Demonstranten gelingen, den Druck aufrechtzuerhalten. Wenn sie es schaffen, die Regime zu zwingen, mehr tiefgreifende Reformen vorzunehmen, dann stehen die Chancen für Länder wie Ägypten und Tunesien gut, sich zu Demokratien zu entwickeln. Denn sie verfügen über die notwendigen Vorbedingungen stabiler Staatsstrukturen.
In Ländern wie Libyen oder dem Jemen dagegen sind solche Strukturen entweder schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden, und der Autokrat hält sein Land durch ein Netz persönlicher Beziehungen zusammen. Die Aussichten für die Demokratie erscheinen deshalb weit schwieriger. Ein anhaltender Aufstand könnte in solchen Ländern zu einem plötzlichen und vollständigen Regimewechsel führen, da die Anführer und ihr unmittelbares Umfeld das gesamte Regime bilden. Sogar der Staat dürfte kollabieren, da es kein Fundament gibt, das unabhängig von den führenden Kräften ist. Es wäre daher extrem unwahrscheinlich, dass ein Regimewandel zur Demokratie führt. Ein wahrscheinlicherer Ausgang wäre eine Variante des Staatszerfalls, der Somalia seit 20 Jahren plagt.
Aus dem Englischen von Bernd Stößel
Der Text ist zuerst auf der Homepage der Carnegie-Stiftung erschienen (www.carnegieendowment.org/ottaway). Copyright: Carnegie Endowment for International Peace, 2011.
Neuen Kommentar hinzufügen