Die Häuser stehen dicht an dicht in der Khalifa-Gasse in Kairo. Hier wohnen Dutzende Familien, die manchmal bis zu zehn Mitglieder zählen. Sie leben und schlafen auf engstem Raum. Die vier Wände, die ihr Zuhause sind, sind aus Holz, Blech oder groben Steinen, die weder vor Kälte noch vor Hitze schützen. „Ashwayiat“ nennen die Einheimischen solche behelfsmäßigen Siedlungen, die Zuwanderer ohne Bleibe auf öffentlichem Land errichtet haben. Es gibt keine Abwasserleitungen und auch sonst keine verlässliche Infrastruktur. Wer hier lebt, muss einfallsreich und anpassungsfähig sein.
Dieses Armenviertel liegt hinter der Universität von Kairo, einer der ältesten und angesehensten Bildungsstätten der Region. Die Gasse ist etwa einen Meter breit, von vielen Fenstern aus kann man das Haus gegenüber mit der Hand berühren. Katzen streiten sich um Essensreste und durchwühlen den Müll auf der Straße. Hier lebt die junge Hausfrau Mona mit ihren drei Kindern und ihrem Mann Am Saeed, der zwar bereits zwei Jobs hat, aber trotzdem nach einem dritten Ausschau hält, um seine Familie ernähren zu können. Mona ist Anfang zwanzig. Sie erzählt, wie sie und ihr Mann im vergangenen Jahr während der Festtage des Fastenbrechens im Anschluss an den Monat Ramadan in der Nacht mit großen Kanistern unterwegs waren, um Wasser zum Kochen und für den Tee zu besorgen. Oft ist der Tank leer, der die Straße eigentlich versorgen soll, und dann brauchen sie zu Fuß über eine Stunde, um Wasser zu holen.
Autorin
Manar Ammar
ist freie Journalistin in Kairo. Sie arbeitet vor allem zu Frauen- und Menschenrechten im Nahen Osten.Mona und ihr Mann teilen sich das Haus mit ihrem Vater und ihrem Bruder. Für die vier Erwachsenen und die drei Kinder gibt es nur ein Schlafzimmer. Die Männer begnügen sich deshalb mit Sofas, die auch zum Essen und zum Lernen benutzt werden. Mona schläft mit den Kindern im Schlafzimmer. In den kalten Wintermonaten müssen sie unter ihren Decken eng zusammenrücken, um sich gegenseitig warm halten.
Monas Familie gehört zu der größer werdenden Zahl von Ägyptern, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Nach einem Bericht der staatlichen Behörde für Statistik CAPMAS von Anfang 2012 gelten etwa 25 Prozent der Ägypter offiziell als arm, da sie mit weniger als 265 ägyptischen Pfund (etwa 30 Euro) monatlich auskommen müssen. In den Jahren 2008/2009 war ihr Anteil mit 21,6 Prozent noch etwas geringer. Der Bericht registriert allerdings auch die erfreuliche Entwicklung, dass die Zahl derjenigen, die in „extremer Armut“ leben, leicht gesunken ist. Er bestätigt damit die Auffassung, die Bemühungen, die Armut zu reduzieren, hätten Früchte getragen. Als extrem arm gilt, wer monatlich weniger als 172 ägyptische Pfund (etwa 20 Euro) zur Verfügung hat.
Nach dem Aufstand 2011 und dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak erlebten die Ägypter eine Welle der Euphorie. Sie hofften, nun würden sich die Lebensumstände aller gesellschaftlichen Schichten bessern – jetzt, da doch die jahrzehntelange Korruption und Unterdrückung zu Ende seien. Doch darauf warten viele noch immer, so wie Mona und ihre Familie. Mona sagt, die Begeisterung über die Revolution habe deutlich nachgelassen. Sie fürchtet sogar, es könnte zu einer Hungerrevolte kommen. „Die Demonstranten 2011 haben nach ‚Brot, Freiheit und Gerechtigkeit‘ verlangt. Bisher haben sie nichts davon erreicht.“
Im Januar 2011 schlossen sich Millionen von Ägyptern der Aufstandsbewegung an, denn sie sehnten sich nach einer besseren Zukunft für sich und ihre Kinder. Gemeinsam demonstrierten sie 18 Tage lang, und den meisten ging es dabei um die Verteidigung ihrer Menschenwürde und die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse. Mit ihrer Beharrlichkeit erreichten sie den Sturz eines der brutalsten Regime in der Region, doch bislang warten sie vergeblich darauf, dass sich ihre Lebensumstände verbessern.
Wirtschaft am Boden
Mehr Jobs und einen wirtschaftlichen Aufschwung wünschten sich mehr als zwei Drittel der Ägypter laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup im April 2012. Daran dürfte sich bis heute kaum etwas ...
„Ich muss meine Kinder ernähren, sie vor Kälte und vor Gefahren schützen und für ihre Ausbildung sorgen. All das gibt es nicht umsonst“, sagt Mona. Ihr Leben dreht sich ganz um ihr leidenschaftliches Engagement für ihre Familie und für eine bessere Zukunft ihrer Kinder. Doch bisher konnten die drei Kinder nur deshalb medizinisch versorgt werden, weil eine Verwandte als Krankenschwester in einem nahegelegenen Krankenhaus arbeitet; andernfalls hätte Mona die Behandlung dort nicht bezahlen können.
Das Geld reicht knapp für Essen und die Schule
Monas Angehörige verdienen im Monat zusammen knapp über 810 ägyptische Pfund (etwa 90 Euro). Davon wird der größte Teil für Lebensmittel und die Schule ausgegeben. Im Vergleich zu der offiziellen Armutsgrenze klingt das nach durchaus üppigen Einkünften. Man muss aber berücksichtigen, dass das Geld auf mehrere Familien verteilt wird, so dass sich Mona und ihre Familie am Rande dessen bewegt, was das Statistikamt als „extreme Armut“ definiert.
Monas drei Kinder sind acht, vier und drei Jahre alt. Samar, die Älteste, geht in die zweite Klasse der Grundschule, an der vier Fächer unterrichtet werden. Außerdem nimmt sie an privat bezahlten Förderstunden teil, obwohl der Lehrstoff überschaubar ist. „Wenn ein Kind auf den Förderunterricht verzichtet, wird es in der Schule benachteiligt. Es versteht die Fragen des Lehrers nicht und kann auch keine stellen.“ So erklärt Mona, warum bereits in den ersten Schuljahren so viel Zeit und Geld zusätzlich aufgewendet werden müssen. Samar selbst versichert zwar, dass sie eigentlich keine besondere Hilfe benötigt. Aber sie fürchtet, beim Lehrer und der Schule in Ungnade zu fallen und in den Klassenarbeiten schlecht abzuschneiden, wenn sie die zusätzlichen Kurse nicht besucht. In Samars Klasse sind 61 Kinder; mehr als drei Viertel davon fühlen sich genötigt, am privaten Förderunterricht teilzunehmen, um das Klassenziel zu erreichen.
All das gehört zum Überlebenskampf der ärmeren Schichten in Ägypten. Bildung ist die wichtigste Voraussetzung für den sozialen Aufstieg, doch dafür braucht man gute Noten. Wer an einer bestimmten Universität studieren will, muss private Nachhilfestunden in Kauf nehmen und sich auf die Regeln von Lehrern und Schulleitern einlassen.
Aber neben der Schule müssen die Grundbedürfnisse der Familie befriedigt werden. Für die Ernährung ist Mona zuständig. Der Markttag sei immer sehr anstrengend, sagt sie – wegen der Preise. „Ich muss Lebensmittel für die gesamte Familie einkaufen und darf trotzdem nur so viel ausgeben, dass das Geld bis zum Monatsende reicht.“ Aber für einen Einkauf auf dem Markt braucht sie mindestens 50 Pfund (7 Euro) für Gemüse, Fleisch und Milchprodukte. Sie hält nicht viel von dem geplanten Mindesteinkommen von 1200 ägyptischen Pfund, denn auch das würde ihrer Meinung nach nicht ausreichen, um eine Familie zu ernähren.
Mona ist kreativ, einfallsreich und versucht optimistisch zu bleiben, doch denkt die Familie auch an Auswanderung. „Es wäre schön, wenn einer von uns diese Chance bekäme und uns dann unterstützen könnte“, sagt sie mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen. Sie fragt, ob ich jemand in Saudi-Arabien kenne, der ihrem Bruder Sherif dort einen Job verschaffen könnte. Gegenwärtig arbeitet Sherif ohne Bezahlung, bis er etwas Besseres findet.
Millionen von Ägyptern bemühen sich um Arbeitsplätze in Saudi-Arabien und den Golf-Staaten, damit sie ihren Familien Geld schicken können. Doch nicht alle können sich einen solchen Schritt leisten oder haben die erforderlichen Kontakte. Viele junge Ägypter wie Sherif sitzen untätig vor dem Fernseher und warten auf Gelegenheitsjobs, mit denen sie ihre Familien unterstützen können.
Mubaraks Sturz sollte einen Neubeginn für Ägypten möglich machen, so dass alle Teile der Gesellschaft eine Chance bekommen. Doch für Mona und ihre Angehörigen hat sich nichts verbessert. Noch immer kommen sie nur mühsam über die Runden, und bei ihrer Suche nach einem Arbeitsplatz und im Kampf ums tägliche Brot hoffen sie kaum mehr darauf, dass sich etwas grundlegend ändert. Noch schlimmer wird es, wenn die Steuererhöhungen Wirklichkeit werden, die im Rahmen einer Kreditvereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgesehen sind. Ein Darlehen von 4,8 Milliarden US-Dollar soll der ägyptischen Wirtschaft, die zwei Jahre nach dem Aufstand noch immer am Boden liegt, zu neuem Schwung verhelfen.
Ein Urlaub am Strand? Das ist undenkbar
Fragt man Mona nach ihren Ferienerlebnissen, stellt sich heraus, dass sie und ihre Familie eigentlich keine haben. Vor ein paar Jahren hat die Familie mal einen Ausflug gemacht, doch nach einem Picknick kamen sie am gleichen Abend wieder nach Hause. Seitdem hatten sie weder Zeit noch Geld für derartige Unternehmungen. Ein Urlaub am Strand? Undenkbar. Wie Mona und ihre Angehörigen machen sich viele Ägypter Sorgen darüber, wie ihre finanzielle Lage in der Zukunft aussehen wird. Als die Regierung eine Reihe neuer Steuern ankündigte, unter anderem auf den Stromverbrauch, die Mieten, Zigaretten und Alkohol, fragten sich viele, wie sie dann noch zurecht kommen können, da die Löhne stagnieren.
„Wovon sollen wir leben?“, fragt auch Mohammed, ein 27-jähriger Kellner, der in einem vornehmen Café auf der exklusiven Nil-Insel Zamalek im Zentrum von Kairo arbeitet. Er denkt ebenfalls an die Steuern, die die Regierung im Rahmen des IWF-Abkommens erheben soll. „Dann sind wir am Ende. Wir verdienen nicht mehr als vor der Revolution. Wie kann die Regierung verlangen, dass wir immer mehr dafür bezahlen, überhaupt am Leben zu bleiben?“
Zwar wurden die Steuererhöhungen zunächst ausgesetzt, doch werden sie den 80 Millionen Ägyptern kaum erspart bleiben. Für jemanden wie Mohammed, der mit seinem Universitätsabschluss als Kellner arbeiten muss, weil er nichts anderes findet, hat jede Steuererhöhung weitreichende Auswirkungen. Er will heiraten, und obwohl sein Gehalt von 700 ägyptischen Pfund noch unter dem nationalen Durchschnitt liegt, legt er jeden Monat etwas zurück. Aber die Ersparnisse reichen nicht: „Ich kann erst heiraten, wenn ich eine eigene Wohnung habe“, erklärt er. „Aber im Augenblick verdiene ich nicht genug, um ein Darlehen zu bekommen. Ich brauche auch Geld für den Bus, um zur Arbeit zu kommen, und ich muss meiner Familie etwas geben als Beitrag zum Haushaltsgeld.“ Bei Mohammed ist der von der Revolution geweckte Optimismus verflogen; im Kampf um den Lebensunterhalt herrscht wieder grauer Alltag.
Alles wird teurer, auch der Besuch beim Arzt
Mohammeds Kollege Tamer ist gerade Vater geworden und wünscht sich für sein Kind eine bessere Zukunft in Ägypten. Er hat sich vom Kellner zum Abteilungsleiter hochgearbeitet und verdient damit ein paar hundert Pfund mehr. Auch er hat im Januar 2011 auf dem Tahrir-Platz gegen Mubarak demonstriert. Doch zwei Jahre später hat sich seine Lage eher verschlechtert. „Alles wird teurer, und es ist schwierig, ein Krankenhaus mit erschwinglichen Preisen zu finden“, sagt er. Tamers Sohn geht zwar noch nicht zur Schule, doch er kann die Probleme von Mona und ihrer Familie gut nachvollziehen. Noch vor ein paar Jahren musste er selbst mit seinem bescheidenen Verdienst die Familie unterstützen, während sein Vater Arbeit als Elektriker suchte. „Ich würde meiner Familie gern weiter helfen, die Lebensmittel, die Miete und Rechnungen zu bezahlen, aber es ist schwierig geworden.“
In Monas Haus hat sich der kleine Raum mit vielen Personen gefüllt, d ie zu ihrer Familie gehören. Sie fragen sich, was ihnen die vergangenen zwei Jahre gebracht haben. Ägypten hat sich politisch geöffnet, der Sturz der Diktatur hat eine neue Dynamik in die öffentliche Diskussion gebracht. Das hat Hoffnungen geweckt, doch zwei Jahre nach der Revolution machen den meisten Ägyptern dieselben wirtschaftlichen Probleme das Leben schwer, mit denen die ärmeren Schichten seit Jahrzehnten kämpfen. Die Verheißung einer besseren Zukunft hat an ihren täglichen Problemen wenig geändert.
Aus dem Englischen von Anna Latz
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