Ein Weg, die sogenannte kulturelle Globalisierung aus diesen komplexen Zusammenhängen gelöst sichtbar zu machen, besteht darin, die vorrangige Rolle von Kultur als das Herstellen von Sinn und Bedeutung zu begreifen. Menschen nehmen an kulturellen Prozessen teil, um ihr Leben mit Sinn zu erfüllen. Dieses Bedürfnis ist etwas ganz anderes als materielle Bedürfnisse, die mit wirtschaftlicher Betätigung befriedigt werden, und als das Verlangen nach Ordnung, bürgerlichen Rechten, Gleichheit und Sicherheit, das in modernen Demokratien – so hoffen wir jedenfalls – die Politik befriedigt. Kultur kann also verstanden werden als Gesamtheit der täglichen Praktiken, mit denen die Menschen einzeln und gemeinsam Lebens-Erzählungen konstruieren: fortlaufende Geschichten, mit deren Hilfe sie ihr gesellschaftliches Sein interpretieren.
Autor
John Tomlinson
ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Nottingham Trent in Großbritannien und hat unter anderem das Buch „The Culture of Speed: The Coming of Immediacy“ (London 2007) verfasst.Wenn man den Einfluss der Globalisierung auf die Kultur verstehen will, muss man folglich fragen, wie die zunehmende internationale Vernetzung sich auf den Kontext auswirkt, in dem solche Geschichten erzählt werden können. Inwiefern erleben Menschen ihren Standort in Zeit und Raum anders als früher? Wie beeinflusst das ihr Selbstverständnis? Wie verändern sich gemeinsame Vorstellungen, Werte, Sehnsüchte, Mythen, Hoffnungen und Ängste, die sich vorher in einem beschränkten lokalen Umfeld mit deutlich weniger Kontakt nach außen herausgebildet haben? Das Wichtigste für das Verständnis der kulturellen Globalisierung sind die Veränderungen in der Beziehung zwischen kultureller Sinngebung und geografischer Verortung.
Traditionell wurde der Kultur immer ein besonderer und wesentlicher Bezug zu einem bestimmten geografischen Ort zugeschrieben. Das sieht man daran, wie wir Strukturen der Sinnbildung einzelnen Gemeinschaften zuordnen und sie dadurch von anderen Gesellschaften abgrenzen – wie zum Beispiel bei einer „Landeskultur“. Die kulturelle Globalisierung hat diesen engen Zusammenhang zwischen Kultur und geografischem Raum aufgebrochen und verändert. Aber wie alles, was Kultur betrifft, ist diese Wirkung komplex und ambivalent.
Anders als pessimistische Beobachter prophezeit haben, hat die Globalisierung insgesamt nicht regionale Kulturen zum Verschwinden gebracht und durch eine einzige, homogene „globale Kultur“ ersetzt. Das ist auch in Zukunft unwahrscheinlich. Die Furcht davor hängt mit der Vorstellung von einem Kulturimperialismus zusammen, unter dem die Sitten und Werte einer mächtigen ausländischen Kultur einer oder mehreren einheimischen Kulturen aufgezwungen werden. Im Zusammenhang mit Globalisierung verweist der Begriff meist auf eine von zwei Annahmen – oder auf beide zugleich: zum einen, dass die westliche Kultur als solche oder starke Landeskulturen wie die der USA dem Rest der Welt ihre spezielle Kultur aufdrängen; und zum anderen, dass der globale Kapitalismus einen destruktiven Einfluss auf Kulturen ausübt, weil er weltweit zur Kommerzialisierung und Vereinheitlichung kultureller Gepflogenheiten und Erfahrungen führt. In jedem Falle wird angenommen, dass lokale Kulturen dem Druck einer dominanten globalen Kultur nicht standhalten können.
Obwohl sie auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, hat die These vom Kulturimperialismus zwei grundsätzliche Schwächen. Erstens beruht die Annahme, eine Kultur beeinflusse eine andere stärker als umgekehrt, häufig auf einer stark vereinfachten Vorstellung davon, wie Kultur weitergegeben wird – besonders wenn man unterstellt, der Westen beeinflusse einseitig den Rest. Das übersieht, dass die Rezeption von Kulturgütern, kulturellen Werten und Ideen von Natur aus dynamisch und mit gegenseitigen Einflüssen verläuft. Und zweitens haben empirische Untersuchungen, die beispielweise den Einfluss internationaler Medien auf die Werte und das Selbstverständnis der Menschen in Entwicklungsländern feststellen wollten, bisher noch keine Bestätigung für die These vom Kulturimperialismus geliefert.
Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass der modernen Welt Teile von lokalen Kulturen – vor allem indigene Sprachen – verloren gehen. Doch lässt sich das nur schwer vom allgemeinen Prozess des kulturellen Wandels trennen, bei dem manche Aspekte lokaler Kulturen verschwinden und zugleich neue kulturelle Mischformen, neue Sprachvarianten und so weiter entstehen. Deshalb haben die meisten kritischen Beobachter und auch Institutionen wie die UNESCO, deren Aufgabe es ist, für die Erhaltung der kulturellen Vielfalt zu sorgen, die These vom Kulturimperialismus verworfen. Stattdessen versuchen sie differenzierter zu verstehen, wie die Globalisierung hergebrachte Kulturen drastisch verändert, ohne die Gefahr ihrer völligen Zerstörung zu übertreiben.
Eine Idee, die dazu entwickelt wurde, ist die der Entterritorialisierung. Der wenig elegante Begriff bezeichnet das Muster, dass Kultur und geografischer Raum zunehmend auseinanderfallen, wo lokale Gesellschaften den Einflüssen der Globalisierung ausgesetzt sind. Hier spielen Entwicklungen eine Rolle wie stärkere Mobilität von Menschen, etwa als Arbeitsmigranten, oder auch die Übernahme fremder Esskulturen und Veränderungen des bebauten Raums infolge des Eindringens internationaler Architekturstile. Der wichtigste Aspekt der Entterritorialisierung ist jedoch, wie diese und andere materielle Umstände dazu beitragen, Alltagserfahrungen und die Konstruktion von Sinn aus der Verankerung in der räumlichen Umgebung zu lösen. Je mehr die Globalisierung in lokale Kulturen eindringt, desto schwächer wird der Einfl uss des lokalen Lebens auf die Deutung der Welt – und desto mehr neue Ressourcen der Weltdeutung sind dort zugänglich.
Diese Vorgänge haben weitreichende Folgen für die moderne Kultur. Sie können nicht mit einfachen Vorstellungen vom „Verlust“ der lokalen Lebenserfahrung oder der Ausbreitung einer allumfassenden globalen Kultur erklärt werden. Die Orte, an denen wir leben, bewahren weiter ein hohes Maß an kultureller Eigenart. Selbst dort, wo sich vieles mischt und die Globalisierung besonders stark zu spüren ist – zum Beispiel in Metropolen wie London, New York, Schanghai, Tokio oder São Paulo –, herrscht ein jeweils besonderes kulturelles Klima. Doch zugleich ist das tägliche Leben in diesen Zentren – genauso wie an weniger international geprägten Orten – jetzt abhängig von der Wechselwirkung mit weit entfernten Ressourcen und Kräften. Das schwächt den Einfluss der lokalen Verhältnisse. Lokale Eigenheiten existieren trotz Globalisierung also weiter, sind aber nicht mehr die bei weitem wichtigsten Determinanten unserer kulturellen Erfahrungen.
Lebensräume werden komplexer und mehrdeutiger in dem Maße, wie sie Einflüssen aus der Ferne ausgesetzt sind. Tätigkeiten wie Arbeit, Einkauf, Sport und Unterhaltung finden zwar an bestimmten Orten statt, sind aber zunehmend von einem Netz von Verbindungen abhängig, die weit über diesen Ort hinausreichen. Diese Abhängigkeit trägt zu der Empfindung bei, dass der Alltag ungefestigter und weniger klar geordnet ist als früher. In modernen Gesellschaften besitzen die Menschen ihre Heimat gewissermaßen nur provisorisch und sind sich irgendwie immer der fernen Mächte bewusst, die auf ihre Zugehörigkeit einwirken. Diese grundlegende Veränderung des örtlichen Lebens ist einerseits euphorisierend und befreiend, denn sie weitet den Horizont der kulturellen Erfahrung stärker als jemals zuvor. Andererseits ist sie gleichzeitig verstörend und desorientierend, weil vertraute Deutungsmuster brüchig werden und die traditionellen Werte und Einstellungen ihre selbstverständliche gesellschaftliche Geltung verlieren.
Das kann auch zur Quelle von Konflikten und Gewalt werden – auch wenn man sich davor hüten muss, zu sehr zu vereinfachen und wirtschaftliche und politische Kräfte und Spannungen unter dem Begriff „Kultur“ zu verstecken. Doch sie kann erstens zu Gewalt führen, wo ethnische und religiöse Spannungen in lokalen Gemeinschaften unter dem Einfluss von Globalisierungskräften eskalieren. Dies ist vor allem ein Problem von postkolonialen Gesellschaften, hatte aber in den 1990er Jahren auch auf dem Balkan dramatische Folgen. Zweitens kann es vorkommen, dass Menschen, die kulturelle Andersartigkeit verkörpern – zum Beispiel Arbeitsmigranten und Flüchtlinge –, als Bedrohung der etablierten Lebensweise empfunden werden; dies führt selbst in den liberalsten demokratischen Staaten Skandinaviens zu Spannungen. Oder – drittens – die Vielfalt an Werten, die in den globalisierten Medien gezeigt wird, droht Gewissheiten der Tradition und die Autorität von religiösen oder kulturellen Hierarchien zu untergraben; das ist in einigen islamischen Staaten zu beobachten.
Zu den wichtigsten Faktoren, die zur Globalisierung der modernen Kultur beitragen, gehört, dass wir immer selbstverständlicher globalisierte Medien und Kommunikationstechnologie nutzen. Wenn wir fernsehen, im Web surfen, soziale Netzwerke, Blogs und Twitter besuchen oder per Mobiltelefon plaudern und SMS verschicken, dann beteiligen wir uns am Austausch über Entfernungen hinweg. Der gewaltige kulturelle Einfluss globaler Medienkonzerne war ja einer der wichtigsten Gründe, die in den 1980er Jahren zur Entstehung der These vom Kulturimperialismus führten. Über die Frage, ob die globale Kultur von westlichen Profitinteressen dominiert wird, streiten sich die Fachleute noch immer. Zweifellos nimmt der Marktanteil amerikanischer und europäischer Anbieter an den globalen Medienprodukten stetig zu, und – noch bedenklicher – die Besitzanteile an den Medienunternehmen und die Kontrolle über sie konzentrieren sich immer stärker in den Händen einiger weniger mächtiger Gruppen wie Time Warner, News Corporation und der Walt Disney Company.
Doch es gibt auch Anzeichen für eine Gegenbewegung. Fachleute verweisen seit einigen Jahren darauf, dass immer mehr Medienprodukte aus Regionen, die bis vor kurzem wirtschaftlich und kulturell gesehen der Peripherie zugeordnet wurden, in den Westen strömen. Dazu gehört, dass Medien aus Südkorea exportiert werden und brasilianische Fernsehserien einen Markt in Portugal finden. Ein starker Einfluss auf diese Gegenbewegung geht aus von der wachsenden Nachfrage nach geeigneten Medien in der über die ganze Welt verteilten Diaspora der Migranten. Zum Beispiel stellen Asiaten in Großbritannien einen bedeutenden Teil des Publikums für „Bollywood“-Filme, und die chinesische Diaspora ist einer der bedeutendsten Märkte für chinesische Medienprodukte.
Es entsteht also ein komplexes Muster der globalen Medienproduktion und des Medienkonsums. Der Besitz und die Kontrolle über kommerzielle Medien konzentrieren sich zunehmend. Aber die globalen Märkte werden diversifiziert; neue Mitspieler treten auf, deren Einfluss noch ungewiss ist; und vor allem sind die Produktion und der Konsum von Medien im Begriff, sich in ihrem Wesen zu verändern. Die neuen Medientechnologien bieten heute Einzelnen und Gruppen eine ungeahnte Bandbreite von Möglichkeiten, sie kreativ zu nutzen und sich auszudrücken. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die Kultur.
Die enorm zunehmende Mediennutzung über das Internet – zumindest in den Industrieländern – ist eine besonders wichtige Voraussetzung für die Globalisierung der Kultur. Vor allem „Medienkonvergenz“, also die Beschränkung auf ein einziges Gerät wie einen Laptop oder ein Mobiltelefon, hat den Umgang mit Medien in der jüngsten Vergangenheit grundlegend verändert. Zahlreiche Menschen brauchen heute lediglich ein Telefon, um zu telefonieren und zu texten, fernzusehen, Musik herunterzuladen, E-Mails zu verschicken, online einzukaufen und im Netz zu surfen.
Das hat mehrere Folgen. In den Industrieländern bekommen traditionelle Printmedien, besonders Zeitungen, große Probleme, da ihre Leserzahlen und die Einkünfte aus der Werbung abnehmen. Außerdem müssen die Menschen sich nicht mehr mit den Sendeangeboten ihres eigenen Landes begnügen, sondern können aus einem potenziell weltweiten Spektrum von Unterhaltung, Nachrichten und Information auswählen. Das trägt dazu bei, dass die Lebenserfahrung immer weniger ans lokale Umfeld gebunden ist.
Wie bei den modernen Medien häufig, haben diese Entwicklungen Vor- und Nachteile. Das interaktive Potenzial neuer Technologien und sozialer Netzwerke im Internet ist zweifellos ein Gewinn. Minderheiten können leichter ihre Interessen artikulieren. Man kann in der Fremde die kulturelle Identität ein Stück weit bewahren oder Kampagnen zu Umweltproblemen organisieren.
Dagegen steht die zunehmende Dominanz kommerzieller Interessen. Dies gilt nicht nur bei der Technik selbst, wie die weltmarktbeherrschende Stellung von Betriebssystemen wie Microsoft und Suchmaschinen wie Google belegt. Sie äußert sich auch darin, dass der Rahmen für die Nutzung der neuen Medien den Marktprinzipien entspricht und auf eine Konsumkultur zugeschnitten ist. So wird das weltweite Netz überschwemmt von Einkaufsangeboten, Werbung, Glücksspielen, Pornografie, Klatschseiten und Auktionen. Neue Medien sind also, obwohl sie mehr Spielräume für demokratische Teilhabe und kulturelle Vielfalt bieten, für die Kommerzialisierung genauso anfällig wie die traditionellen Medien.
Die kulturelle Globalisierung zu verstehen, ist nicht nur an sich sehr wichtig, sondern auch wegen der engen Verflechtung der Kultur mit anderen wichtigen Dimensionen der Globalisierung: Politik, Wirtschaft, Ökologie, Technologie. Und sie haben offensichtlich beträchtlichen Einfluss auf das kulturelle Leben. Obwohl es wie gesagt wenig Anzeichen dafür gibt, dass die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus insgesamt eine Gleichschaltung der Kultur bewirkt, droht die Macht des Marktes doch zur Verengung des kulturellen Lebens zu führen, weil dieses weltweit so tief von der Kommerzialisierung geprägt wird.
In Gefahr ist demnach nicht so sehr die kulturelle Vielfalt als solche. Die Frage ist vielmehr, ob kulturelle Praktiken, die nach wirtschaftlichen Prinzipien organisiert sind, noch existenzielle Bedürfnisse befriedigen können: die Lebens-Erzählungen nähren, mit denen wir – mit oder ohne Hilfe der Religion – das Rätsel der menschlichen Existenz deuten. Insofern können Kritiker des globalen Kapitalismus mit Grund das Hauptproblem der globalisierten Kultur darin sehen, dass sie derart viele kulturelle Praktiken und Erfahrungen in Waren verwandelt, die zum Kauf und Verkauf bestimmt sind. Tatsächlich ist ja das Shoppen als solches heute ein zentrales kulturelles Anliegen der westlichen Gesellschaften. Eine Shopping-Komponente ist ein eingebauter Teil fast jeder Freizeitgestaltung. Es steht zu befürchten, dass das Konsumprinzip sich alle Bereiche der Kultur unterwerfen wird.
Doch Kultur ist mit der Globalisierung auch auf potenziell viel erfreulichere Arten verflochten. Die wichtigste ist die Aussicht, dass sich kosmopolitische Regime der Zusammenarbeit im politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereich herausbilden. Die Globalisierung kann nicht nur Konflikte über ethnische oder religiöse Identitäten hervorrufen – sie kann auch Kräfte mobilisieren, diese Konflikte zu überwinden.
Eine globalisierte Kultur öffnet auf vielfältige Weise das lokale Leben zur Welt – über den Einfluss globaler Medien, den zunehmenden Austausch mit anderen Ethnien in multikulturellen Milieus, über verbesserte Reisemöglichkeiten, weltoffene Bildungsprogramme in Schulen und Universitäten. So trägt sie zur Tendenz bei, die Welt weniger ethnozentrisch zu deuten und kulturelle Werte nicht nur mit Blick auf die eigene Gruppe zu entwerfen. Insofern könnte die kulturelle Globalisierung eine wesentliche Voraussetzung dafür sein, dass die Feindschaft gegenüber dem kulturell Anderen abgelöst wird von einer offeneren und toleranteren Einstellung, von Pluralismus und der Hochschätzung von kultureller Vielfalt. Vielleicht wird sich die Verflechtung der Kultur mit der Globalisierung langfristig als Geburtshelferin einer fortschrittlichen, humanen und kosmopolitischen Welt erweisen.
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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