Am Horn von Afrika im Sommer 2011: Die schlimmste Dürrekatastrophe seit 60 Jahren sucht die Region heim. Mehr als 12 Millionen Menschen sind betroffen, Hunderttausende auf der Flucht. Am schlimmsten ist die Lage in Somalia, wo kein Staat mehr existiert, ein blutiger Bürgerkrieg tobt und die Bevölkerung von bewaffneten Gruppen terrorisiert wird. Unbeschreiblich ist das Leid der Menschen, denen als einziger Ausweg die Flucht bleibt. Mehr als 700.000 Somalierinnen und Somalier waren bis Ende 2010 ins Ausland geflohen, etwa doppelt so viele leben als Binnenvertriebene im eigenen Land. Die Hungerkrise, die absehbar war und nicht verhindert wurde, verschärfte dann die Situation. Täglich machen sich jetzt mehr als tausend Menschen auf den Weg in die überfüllten Flüchtlingscamps in Kenia und Äthiopien. Dort behindern das Fehlen von Infrastruktur und eine wenig kooperative Bürokratie die Nothilfe. Die Folge ist, dass viele Bedürftige nur unzureichend Zugang zu Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung haben. Tagelang müssen viele Neuankömmlinge allein auf ihre Registrierung warten.
Autorin
Claudia Warning
leitet den Vorstandsbereich „Internationale Programme und Inlandsförderung“ von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst.Zur gleichen Zeit auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa: Vermutlich etwa 40.000 Menschen sind in der ersten Jahreshälfte an italienischen Küsten gestrandet, ein Großteil davon auf der 20 Quadratkilometer großen Insel. Sie kommen vor allem aus Libyen, Tunesien und Ägypten. Sie haben bei der Überfahrt ihr Leben aufs Spiel gesetzt in der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit und Würde in Europa. Auf Lampedusa kommen sie in überfüllte Aufnahmezentren mit teils unzumutbaren hygienischen Bedingungen – wenn sie überhaupt ankommen.
Nicht selten werden Flüchtlinge noch vor ihrer Ankunft auf europäischem Boden wieder zurück geschickt oder tauchen nur als Todeszahlen in den Nachrichten auf. Nach Südeuropa kamen schon immer Menschen aus Afrika, wenn auch weniger als heute – nicht zuletzt weil die diktatorischen Regime in Libyen und Ägypten bei der Abwehr von Flüchtlingen halfen. Seit Jahresbeginn hat sich das infolge der politischen Umbrüche in Nordafrika geändert, und der Aufschrei in Europa ist groß angesichts scheinbarer Massenzuwanderung.
Die Hungerkatastrophe und die Zustände auf Lampedusa sind nicht miteinander vergleichbar. Aber sie werfen ähnliche Fragen auf: nach dem richtigen Umgang mit schwierigen Situationen und menschlichen Schicksalen und nach unserer Verantwortung als internationale Gemeinschaft, als kirchliche Hilfswerke, aber auch als Menschen. Flüchtlinge und Vertriebene gehören zu den Schwächsten und sind schutzbedürftig. Dort, wo ihre Grundrechte gefährdet sind oder missachtet werden, müssen wir einschreiten.
Migrationsbewegungen und Flüchtlingsströme sind Teil der Menschheitsgeschichte; gerade Europäer und Europäerinnen haben sie vielfach in Gang gesetzt. Denken wir nur an die Hungersnot in Irland im 19. Jahrhundert, an Flucht und Vertreibung infolge der beide Weltkriege oder an die Anwerbung von Gastarbeitern im 20. Jahrhundert. Heute leben nach jüngsten Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR vier von fünf Flüchtlingen in Entwicklungsländern. Gerade die ärmsten Länder nehmen die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen auf. Dennoch wird in Europa das Gefühl geschürt, wir seien von Zuwanderung bedroht; große Anstrengungen werden unternommen, um uns abzuschotten.
So sehr sich die Situationen in Somalia und Lampedusa unterscheiden: Für beide gilt, dass nicht die Symptome, sondern die zugrunde liegenden Probleme angegangen werden müssen. Statt erst zu reagieren, wenn es zu spät ist, müssen wir uns darauf konzentrieren, Katastrophen zu verhindern. Fraglos muss in akuten Krisen Nothilfe geleistet werden. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass langfristig vor allem politische Lösungen nötig sind. Mehr Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und nachhaltige Entwicklung am Horn von Afrika, ein Umdenken im Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden in Europa und vor allem ein eindeutiges Bekenntnis zu unserer gemeinsamen Verantwortung als Weltgemeinschaft wird mehr Sicherheit für uns alle zur Folge haben.
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