Welche Erwartungen haben Sie an Rio+20?
In erster Linie, dass die verschiedenen Aspekte von Nachhaltigkeit noch einmal deutlich ins Bewusstsein rücken. Anliegen wie ökologische Tragfähigkeit, Armutsbekämpfung und Gerechtigkeitsfragen weltweit müssen gebündelt diskutiert werden. Rio+20 ist auf jeden Fall die richtige Konferenz zum richtigen Zeitpunkt.
Sind solche Mammutkonferenzen eigentlich noch zeitgemäß, um politische Ziele voranzubringen?
Man sollte nicht erwarten, dass wegweisende Beschlüsse gefasst werden; dazu blockieren sich die Länder gegenseitig zu stark. Wir beobachten aber, dass bei den offiziellen Delegationen ein Bewusstseinswandel einsetzt. Hinter den Kulissen wird die Dringlichkeit der Probleme, um die es bei Rio+20 geht, häufig anders eingeschätzt, als die Regierungen nach außen wiedergeben. Auch wenn ein solcher Gipfel viel Geld kostet, ist er die Anstrengung wert, weil wirklich viel auf dem Spiel steht.
Wie bereitet sich die internationale Zivilgesellschaft auf den Gipfel vor?
Es hat im Januar in Porto Alegre ein „thematisches Weltsozialforum“ mit etwa 10.000 bis 15.000 Teilnehmern gegeben, auf dem es im Wesentlichen um Rio+20 ging. Die internationale Zivilgesellschaft ist über die Brasilianer und über die Strukturen des Weltsozialforums gut organisiert; die vielen Jahre der guten Zusammenarbeit machen sich jetzt bemerkbar. Die Netzwerke kennen sich und wissen, wie sie miteinander umzugehen haben. Es wurde im Januar ein internationales Komitee ins Leben gerufen, um den Alternativgipfel „People’s Summit“ vorzubereiten.
Auf der Website des „People’s Summit“ werden als Organisatoren aber nur brasilianische Organisatoren genannt.
Ja, das stimmt. Anfang dieses Jahres haben die Brasilianer Organisationen aus aller Welt dazu eingeladen, im Vorbereitungskomitee mitzuwirken. Das hat die nichtbrasilianischen Organisationen überfordert und sie haben den brasilianischen Partnern ihr Vertrauen ausgesprochen. Es hätte zum Beispiel ein evangelisches Hilfswerk aus Europa dem Komitee beitreten können. Wir aber fühlen uns vom nationalen ACTForum in Brasilien gut vertreten. Allerdings war die Frage der Internationalisierung ein heikles Thema: In Porto Alegre sind uns die brasilianischen NGOs noch so gegenübergetreten, dass man den Eindruck gewinnen konnte, das wird ein brasilianisches Forum in Rio. Das hat sich geändert: Die Brasilianer haben deutlich gemacht, dass sie sich mit den internationalen Netzwerken verknüpfen wollen, und das funktioniert auch sehr gut.
Die Industrieländer wollen in Rio de Janeiro vor allem über Umweltschutz reden, während vielen ärmeren Ländern Themen wie Armutsbekämpfung oder wirtschaftliche Entwicklung wichtiger sind. Gibt es diese Differenzen auch in der internationalen Zivilgesellschaft?
Ja, aber nicht so sehr zwischen Ländern. In der brasilianischen Zivilgesellschaft zum Beispiel setzen die sozialen Bewegungen auch auf Wachstum und Umverteilung. Die Umweltbewegungen haben ganz andere Sorgen: Sie stehen im Amazonas am Rand der Kriminalisierung und haben das Gefühl, dass die Ansprüche der sozialen Bewegungen ihren eigenen Zielen manchmal zuwiderlaufen. Wir haben es schon erlebt, dass brasilianische Umweltbewegungen froh über Verbündete aus dem Ausland waren, die ihre Anliegen teilen. Ich vermute, in anderen Ländern ist das ähnlich.
Eine Nord-Süd-Kluft gibt es also nicht?
Nein. Die Frage ist eher, wie sich künftig Vertreter der Zivilgesellschaft aus Schwellenländern einordnen. Wir haben es zum Beispiel in Sitzungen in Brasilien erlebt, dass Organisationen und Initiativen aus anderen südamerikanischen Ländern die Brasilianer scharf angegangen sind und ihnen vorgehalten haben, sie seien dominant.
Das Leitmotiv von Rio+20 ist eine „Begrünung der Wirtschaft“ – die „Green Economy“. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen sehen das skeptisch. Warum?
Es spricht nichts dagegen, darüber nachzudenken, wie man Wirtschaft grüner macht – etwa in der Energieversorgung, bei der Produktion oder dem Konsum. Im bisherigen Entwurf für das Abschlusspapier von Rio+20 wird aber nicht danach gefragt, welche ökologischen oder sozialen Grenzen wir bereits erreicht oder sogar schon überschritten haben. Man geht von der gegebenen Wirtschaft aus und fragt nur, wo man sie an einzelnen Stellen weiterentwickeln kann. Die vielen Krisenzeichen – die Überfischung der Meere, die Übernutzung der Böden, die Schrumpfung von Süßwasservorräten – nimmt das Konzept nicht als Zeichen zur Kenntnis, dass grundlegendes Umdenken angesagt ist. Man nährt die Illusion, mit sparsamerer Ressourcennutzung oder etwas weniger Kohlenstoffemissionen einfach so weiter machen zu können. Dabei kann jeder nachrechnen, dass die Gesamtbelastungen weiter wachsen werden. Auch auf Gerechtigkeitsfragen gibt die sympathisch daher kommende Vorstellung einer „Grünen Wirtschaft“ wenig Antworten.
Kann man darüber reden, ohne dass die Wirtschaft in Rio mit am Tisch sitzt?
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen sind dagegen. Die Wirtschaft ist ein wichtiger „stakeholder“, wie man neudeutsch sagt. Viele Unternehmen fragen, was ihre Rolle sein soll, und haben längst auch eine Art Frühwarnsystem aufgebaut, um zu erkennen, was ihnen blühen könnte. Es kann von Vorteil sein, die Wirtschaft frühzeitig in Diskussionen einzubinden. Aber für uns als Zivilgesellschaft ist es wichtig festzuhalten, dass es Aufgabe der Politik ist, den Weg in die Zukunft aufzuzeigen. Sie muss sagen, was geht und was nicht geht. In Rio müssen die Staaten ihre Verantwortung für die Welt wahrnehmen und dürfen sich nicht als Kofferträger für die Interessen der bei ihnen angesiedelten Unternehmen verstehen. Das ist der kritische Punkt, nicht ob die Wirtschaft teilnehmen soll.
Gilt das auch für die Beteiligung der Zivilgesellschaft?
Zum einen ist es ähnlich in dem Sinne, dass auch die Zivilgesellschaft gehört werden muss. Zum anderen muss man aber unterscheiden, dass die Wirtschaft nur ihre eigenen Interessen vertritt – was völlig legitim ist –, während die Zivilgesellschaft in der Summe beanspruchen kann, nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern die der gesamten Bevölkerung und des Naturraums abzubilden.
Manchmal auch mit Geld aus der Wirtschaft: So hat sich die brasilianische Zivilgesellschaft das Weltsozialforum in Porto Alegre vom brasilianischen Ölkonzern Petrobras sponsern lassen...
Ja, und das gab auch großen Ärger. Petrobras ist ein Staatsbetrieb und gibt der brasilianischen Regierung die Möglichkeit, über diesen Weg die Zivilgesellschaft zu unterstützen. Gut angekommen ist das nicht im Weltsozialforum, und richtig schwierig wurde es beim Forum 2011 in Dakar, als die Gruppe aus Brasilien ein großes, gut ausgestattetes Zelt aufstellte, das nach meinem Wissen vollständig von Petrobras bezahlt worden war – was gut sichtbar außen drauf stand. Damit hatten die Brasilianer die Regeln des Weltsozialforums klar übertreten, und das wurde ihnen auch deutlich gesagt.
Welche Lehren zieht die internationale Zivilgesellschaft aus neuen Bewegungen wie Occupy oder aus den Umbrüchen in der arabischen Welt?
Wir dürfen uns nicht einbilden, dass die institutionell verfasste Zivilgesellschaft, also nichtstaatliche Organisationen, einen gesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruch haben. Wir erkennen noch nicht immer gut, wie wir das mit neuen zivilgesellschaftlichen Formen der Artikulation, zum Beispiel über das Internet, zusammenbringen. Vielleicht ist das auch noch zu früh, aber es lehrt uns auf jeden Fall, das aufmerksam zu verfolgen und auszuloten, welche Art Zusammenarbeit in Zukunft möglich ist. Das wird sehr interessant werden beim Weltsozialforum 2013 in Tunesien, wo im Kampf um Demokratie die über das Internet organisierten Bewegungen eine Hauptrolle gespielt haben und bei der Planung des Weltsozialforums eine maßgebliche Rolle spielen. Das hatten wir noch nie.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
Jürgen Reichel
leitet beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) das Referat „Entwicklungspolitischer Dialog“.
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