Zwischen 1997 und 2007 hielten viele Organisationen, die sich um das Wohlergehen von Kindern in Westafrika sorgen, den Kinderhandel oder sogar Kindersklaverei für ein wichtiges Thema. Ausgelöst wurde diese Wahrnehmung von der Öffentlichkeitsarbeit, hauptsächlich von Organisationen mit Sitz in Westeuropa und Nordamerika: Sie machte auf die Lage westafrikanischer Mädchen und Jungen aufmerksam, die weit weg von zu Hause, oft in einem anderen Land, schwere Arbeit leisteten, die mehrere oder alle Merkmale der Sklaverei erfüllte.
Die Kinderarbeiter, deren Schicksal ursprünglich im Mittelpunkt der Kampagnen stand, waren vom Land in die Städte oder ins Ausland gezogen, um als Haushaltshilfe zu arbeiten. Sie waren bei ihren Arbeitgebern untergebracht und wuschen und putzten, während die Kinder des Hausherrn zur Schule gingen. Meistens handelte es sich um Mädchen, aber es gab auch einen beträchtlichen Anteil an Jungen. In Extremfällen ähnelten diese schuftenden Kinder einem auf Arbeit programmierten Roboter, der seinem Arbeitgeber möglichst wenig Umstände machen sollte.
Im Blickfeld standen zunächst Kinder aus Benin und Togo, die teilweise hunderte Kilometer in kleinen Booten über das Meer nach Gabun verfrachtet worden waren, einem wegen seiner Ölvorkommen reicheren Land. Das war deutlich riskanter als die herkömmliche Kinderarbeit, bei der Jugendliche im kleinbäuerlichen Betrieb der Eltern oder in einem Geschäft mithalfen, aber noch bei den Eltern lebten. 1997 wurde für die Anwerbung westafrikanischer Kinder als Arbeitskräfte über weite Entfernungen der Begriff „Kinderhandel“ geprägt.
Autor
Mike Dottridge
ist Kinder- und Menschenrechtsexperte und unter anderem für die Vereinten Nationen tätig. Von 1996 bis 2002 war er Direktor der NGO Anti-Slavery International.Später geriet auch die missliche Lage anderer jugendlicher Arbeitsmigranten in Westafrika in den Blick. Im September 2000 waren es arbeitende Kinder aus Burkina Faso und Mali auf den Kakaoplantagen der Elfenbeinküste. Im April 2001 beherrschte die zweiwöchige Irrfahrt der „Etireno“, eines ganzen Schiffes voller Mädchen und Jungen auf dem Weg von Benin nach Gabun, über Ostern die Schlagzeilen. Zu dieser Zeit verputzen Europäer und Amerikaner Berge von Schokolade. Auch wenn keines der Kinder zu den Kakaoplantagen unterwegs war, erklärt das wohl, dass in westlichen Medien Behauptungen auftauchten, die Kinder sollten von der Schokoladenindustrie ausgebeutet werden. Diese sah sich daraufhin gezwungen, auf internationaler Ebene eine Reihe von Maßnahmen gegen Kinderarbeit und Zwangsarbeit bei der Kakaoproduktion anzukündigen.
2003 konzentrierte sich alles auf Kinder aus Benin, die im Nachbarland Nigeria in Steinbrüchen arbeiteten und von den nigerianischen Behörden unter medialem Getöse in ihr Heimatland zurückgeschafft wurden. Im Nachhinein stellte sich aber heraus, dass ein Teil der unfreiwilligen Heimkehrer junge Erwachsene oder Minderjährige waren, die von ihrem Alter her schon arbeiten durften.
So entwickelte sich ein festes Wahrnehmungsmuster außerhalb Afrikas: der Eindruck, Hunderttausende von Kindern – zum Teil Jugendliche, zum Teil aber auch wesentlich jüngere Kinder – würden furchtbar ausgebeutet. Tatsächlich litten viele Minderjährige unter grauenhaften Arbeitsbedingungen und bekamen für ihre Arbeit mitunter keinen Lohn als allein ihren Unterhalt. Trotzdem beschreiben Begriffe wie „Kinderhandel“ oder „Versklavung“ die Erfahrungen der meisten Kinder nur unzutreffend. Sie beruhen auf unzureichenden Informationen oder Fehlinterpretationen der Vorgänge in Westafrika.
Nach der Annahme des UN-Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels im November 2000 bekamen UN-Organisationen mehr Geld zur Bekämpfung des Menschenhandels. Das fiel zusammen mit dem Beginn eines Feldzugs der Vereinigten Staaten gegen Menschenhandel und moderne Sklaverei. In beiden Fällen lag das Hauptaugenmerk auf der Verfolgung der Menschenhändler und der Rettung der Frauen und Kinder aus ihren Fängen. Die Grundannahme war, dass die „Opfer“ gegen ihren Willen verschleppt worden waren und so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren sollten. Diese Auslegung fand Anklang bei den Regierungen der westlichen Länder, die über irreguläre Einwanderung besorgt und entschlossen waren, so viele illegale Einwanderer wie möglich zurückzuschicken. Viel Geld wurde in Gesetzesreformen gepumpt; die Polizei wurde angeleitet, Fälle von Menschenhandel aufzudecken und darauf zu reagieren.
Vernachlässigt wurde hingegen, die Ursachen für die Migration so vieler Minderjähriger in Westafrika und die Möglichkeiten zur Verhinderung von Missbrauch zu ergründen. In der Annahme, dass Kinder gegen ihren Willen verschleppt wurden, begannen nichtstaatliche Organisationen (NGO) und die Polizei in verschiedenen westafrikanischen Ländern Kinder, die auf Arbeitssuche unterwegs waren, abzufangen – unabhängig davon, ob sie gerade einmal 13 Jahre alt oder mit 17 Jahren schon „beinahe“ erwachsen waren. Da nur wenige von ihnen tatsächlich „Opfer von Kinderhandel” waren, war ihre Rückführung oder Rückkehr nach Hause nur selten im Sinne des Kindeswohls. Zugleich wurde kaum etwas unternommen, um die Arbeitsbedingungen von Jugendlichen oder Kindern zu verbessern, und in praktisch keinem Fall wurden Arbeitgeber für Ausbeutung bestraft.
Das Abfangen jugendlicher Migranten hatte mitunter sogar gefährliche Folgen für die Kinder. In Burkina Faso zum Beispiel war es üblich, dass sich drei oder vier Mädchen aus Sicherheitsgründen zusammentaten, wenn sie aus den ländlichen Regionen in die Hauptstadt Ouagadougou reisten, um sich dort als Haushaltshilfe zu verdingen. Nun begannen sie, sich alleine auf den Weg zu machen, um unterwegs nicht aufzufallen und aufgegriffen zu werden. Natürlich machte sie das auf der Reise anfälliger für Missbrauch. Einige Jahre lang gab es eine Tendenz, jede Arbeitsvermittlungsstelle, die Kinder anwarb oder ihnen bei der Arbeitssuche behilflich war, als „Kinderhändler“ abzustempeln. Das galt auch, wenn die Vermittlungsagentur die Minderjährigen tatsächlich schützte und sicherstellte, dass sie eine vernünftige Arbeit fanden und Gelegenheit hatten, ihren Eltern Geld zu schicken.
2003 schrillten dann die ersten Alarmglocken. Forscher berichteten, dass die Maßnahmen gegen den Kinderhandel den Kindern mehr schadeten als nutzten. Eine der ersten Warnungen kam aus Mali, wo Wissenschaftler beobachtet hatten, dass „Beobachtungskomitees“, die in den Dörfern das Treiben der Kinderhändler unterbinden sollten, in Wirklichkeit junge Leute schikanierten und auf die Autorität der Alten im Dorf pochten – so ziemlich das Gegenteil von dem, was die Kinderrechtsaktivisten im Sinn gehabt hatten.
Zu Beginn waren internationale Organisationen wie das UN-Kinderhilfswerk Unicef, die beträchtliche Summen in Programme zur Bekämpfung von Kinderhandel gesteckt hatten, sehr wenig empfänglich für die Nachricht, dass ihre Programme radikal umgestaltet werden müssten. Allerdings mehrten sich die Beweise, dass die Maßnahmen ineffektiv waren. Spezialisten für Kinderschutz in verschiedenen westafrikanischen Ländern wiesen darauf hin, dass in der Region die Migration zum Geldverdienen eine lange Tradition habe und nur ein kleiner Anteil der Kinder wirklich die Merkmale von „Opfern des Kinderhandels“ erfülle und aufgegriffen werden solle.
Im Fall der Kakaoplantagen in der Elfenbeinküste stellte sich heraus, dass die Schätzungen von 10.000 versklavten Minderjährigen pro Jahr auf einer Fehlinterpretation der Daten über Kinder beruhten, die in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiteten, ohne mit dem Besitzer verwandt zu sein. Die tatsächliche Zahl der Opfer von Kinderhandel oder Sklaverei lag wahrscheinlich weit darunter.
2008 entstand in der Region auf Anregung von Unicef ein neues Kinderrechtsbündnis, eine regionale Plattform für die Mobilität von Kindern. Beteiligt sind unter anderen die Afrikanische Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher (MAEJT), PLAN International, Terre des Hommes, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die Internationale Organisation für Migration (IOM). Besonders wichtig ist die Beteiligung einer Organisation, die einige der arbeitenden Minderjährigen aus der Region selbst vertritt. So konnten die betroffenen jungen Menschen ihre Meinung über die Vor- und Nachteile der Migration vor Erreichen der Volljährigkeit in die Diskussion einbringen, unter anderem mit ihrem Bericht über minderjährige Migranten in Westafrika.
Für die Studie wurden 130 arbeitende und 219 nicht arbeitende Kinder aus fünf Ländern (Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Mali und Niger) befragt. Die Studie bestätigte die Bedeutung der Sprache, denn Begriffe wie „Kinderhandel“ und „Ausbeutung“ hatten in den Muttersprachen der Kinder keine direkte Entsprechung. Deshalb verwundert es nicht, dass die „Beobachtungskomitees“ auf Dorfebene gar nicht begriffen hatten, was sie denn beobachten sollten. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Kinder grundsätzlich am Verlassen ihres Zuhauses zu hindern, statt sich auf echte Fälle von Kinderhandel zu konzentrieren.
Die Studie bestätigte, dass Kinder zwar ihr Zuhause nicht unter Zwang verlassen wollen, viele aber glauben, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, noch als Jugendliche wegzugehen – allerdings vorzugsweise nach Abschluss einer formellen oder religiösen Ausbildung, was bereits im Alter von 12 Jahren der Fall sein kann. In manchen Fällen waren für den Weggang Gründe verantwortlich wie der Mangel an Verdienstmöglichkeiten in der Umgebung des Wohnortes; die Aussicht junger Mädchen, bei Erreichen der Pubertät sofort verheiratet zu werden – oft mit einem wesentlich älteren Mann; und unterschiedliche Formen der Ausbeutung in Wohnortnähe.
Bis zum Jahr 2009 haben die Bemühungen der Plattform um ein besseres Verständnis der Migration von Jugendlichen in Westafrika bereits zu einigen vorläufigen Erkenntnissen geführt: In manchen Fällen entschließen sich Kinder selbst, ihre Heimat zu verlassen und wegzuziehen; in anderen Fällen wird das von Erwachsenen in ihrem Gemeinwesen organisiert. Die meisten Migrationsmuster oder „Bewegungen“ von Kindern unterliegen rationalen Überlegungen. Von der Bevölkerung in Westafrika werden jugendliche Migranten überwiegend als etwas Gutes wahrgenommen. Und die räumliche Veränderung kann die Entwicklung eines Kindes günstig beeinflussen.
Allerdings ist die Anfälligkeit von Kindern für Missbrauch höher, solange sie unterwegs sind. Ausbeutung und Missbrauch sind feste Bestandteile bestimmter Formen der Mobilität, vor allem wenn Kinder keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe oder Menschen aus ihrer Heimat haben. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jugendliche Migranten, die zunächst die Möglichkeit haben, Nachrichten nach Hause zu schicken, an einen anderen Ort gebracht werden, wo sie niemanden kennen und keinen Kontakt mehr nach Hause aufrecht erhalten können.
Die Plattform ist noch dabei, weitere Erkenntnisse zu gewinnen, wie ein Schutz der Kinder aussehen muss, der wirklich zu ihrem Wohl ist. Auch wenn Regierungen vielleicht noch darauf schielen, ihre Reputation aufzupolieren und die Mächtigen in Übersee durch das Aufgreifen von jugendlichen Migranten zu beeindrucken, werden solch plumpe Vorgehensweisen hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.
Natürlich gibt es in Westafrika jede Menge Kinder, die Opfer von Kinderhandel sind und darauf warten, aus Situationen groben Missbrauchs – darunter auch sklavereiähnlichen Zuständen – gerettet zu werden. Doch haben die Projekte der vergangenen zehn Jahre solche Kinder im Großen und Ganzen außen vor gelassen. Für einen wirksamen Schutz ist es nötig, die Kriterien der Behörden und NGOs zu überarbeiten, nach denen ein Kind als „Opfer des Kinderhandels“ gilt. Zudem muss man die Koordination zwischen Regierungsstellen und NGOs verbessern, die direkt mit den Kindern arbeiten, sowohl in einem jeden einzelnen Land als auch länderübergreifend. Auch wird es nötig sein, dass Regierungen sich zum Handeln verpflichten, um Kinder vor den schlimmsten Formen der Ausbeutung zu schützen, statt solche Fälle zugunsten der Imagepflege im Ausland zu ignorieren.
Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.