Spirituelle Ambulanz

Die Brasilianer kehren dem Katholizismus zunehmend den Rücken und schließen sich Pfingstkirchen an. Auch Prominente wie die Präsidentschaftskandidatin Marina Silva und der Weltfußballer Kaká zählen sich zu den „Evangélicos“. Deren Regeln geben Halt und Orientierung. Doch für ihr Seelenheil müssen die Mitglieder, von denen viele sehr arm sind, tief in die Tasche greifen.

Es dauert keine zwei Minuten, bis zum ersten Mal jemand auf uns zukommt. Akkurat gekleidet mit dunkelblauer Stoffhose, weißem Kurzarmhemd und einer Krawatte mit dem Logo der Kirche, einer weißen Taube auf rotem, herzförmigem Hintergrund. „Willkommen im Tempel des Glaubens“, sagt der Mann mit Glatze, reicht uns die Hand und fragt uns, ob wir schon einmal hier waren. Die Antwort kennt er nur zu gut: Nein, waren wir nicht. Und genau deshalb hat er sich gleich an unsere Fersen geheftet, denn wir sind Neue.

Leute wie uns erkennen Männer wie Aurelino sofort. Er ist ein so genannter Obreiro, ein Handwerker Gottes, in der Universalkirche des Reiches Gottes (IURD), der größten neopentecostalen Kirche Brasiliens, und muss genau beobachten, wer im „Tempel des Glaubens“ ein- und ausgeht. Besucher, die zuviel fragen und zuviel schauen, sind nicht willkommen. Wir lassen uns nichts anmerken, antworten höflich auf Aurelinos Fragen und rutschen dabei ein wenig tiefer in die weichen Polster der Sitze, die eher einem Kinositz gleichen als einer Kirchenbank. 6000 Plätze fasst der riesige Tempel der Universalkirche in Salvador da Bahia. Fünf zweistündige Gottesdienste, so genannte Cultos, werden hier täglich abgehalten.

Alexander Gropper bezeichnet das als „spirituelle Ambulanz“. Alle paar Stunden finde ein Gottesdienst statt, es sei immer jemand da, der einem zuhört und etwas Gutes tun will. Der Kulturwirt der Universität Passau beschäftigt sich seit Jahren mit religiösen Phänomenen in Brasilien und forscht derzeit in Salvador da Bahia. Charakteristisch sei auch das eigene Sorgentelefon der Universalkirche, SOS Espiritual, berichtet Gropper. „24 Stunden am Tag bekommt man von freundlichen und aufgeschlossenen Mitarbeitern Auskunft.“

Lange galt Brasilien als Hochburg des Katholizismus, als das größte katholische Land der Welt. Bis in die 1950er Jahre bekannten sich laut offiziellen Volkszählungen rund 90 Prozent der Brasilianer zum katholischen Glauben. Doch der einstige Musterknabe des Vatikans ist zum Problemkind geworden: Im Jahr 2000 fühlten sich nur noch 70 Prozent der Bevölkerung der katholischen Kirche zugehörig. Zwei Millionen Gläubige, so schätzen Religionswissenschaftler, verliert die katholische Kirche in Brasilien jährlich. Gleichzeitig scharen die Pfingstkirchen immer mehr Anhänger um sich. Allein in Rio de Janeiro wird im Schnitt täglich eine neue Pfingstgemeinde gegründet. In diesem Jahr ist eine neue Volkszählung geplant, und obwohl das Resultat für die katholische Kirche alarmierend ausfallen dürfte, sieht sie offenbar keinen Anlass zur Sorge. „Ich kann das wirklich nicht ernst nehmen“, hatte der Kardinal von Salvador, Geraldo Majella Agnelo, vor drei Jahren bei einer Tagung von Adveniat in Essen gesagt. Alexander Gropper fragte im April bei der Pressestelle des Vatikan, der brasilianischen Bischofskonferenz und dem Bistum Salvador an, wie sie mit der Herausforderung durch die Pfingstgemeinden umgehen. Bis heute hat er darauf keine Antwort erhalten.

Die Geschichte der brasilianischen Pfingstbewegung begann bereits im 16. Jahrhundert. Zu dieser Zeit drang zunächst der Protestantismus in das katholische Brasilien vor, konnte sich jedoch erst mit der massiven Einwanderung aus Europa im 19. Jahrhundert etablieren. Lutherische, methodistische, presbyterianische und baptistische Immigranten veränderten die brasilianische Gesellschaft. Die Pfingstler waren die letzten, die in diesem religiösen Feld auftauchten. Ihren missionarischen Ursprung haben ihre Gemeinden zum Großteil im Ausland. So gründeten die Schweden Daniel Berg und Gunnar Vingren bereits 1911 die Assembléia de Deus in Belém, im nördlichen Bundesstaat Pará. Sie ist heute mit mehr als sechs Millionen Anhängern die größte pentecostale Gemeinschaft Brasiliens. Viele Politiker und Prominente gehören einer Pfingstkirche an. Der brasilianische Weltfußballer Kaká etwa ist das internationale Zugpferd der Kirche „Wiedergeburt in Christus“ (Renascer em Cristo). Seine FIFA-Trophäe schenkte er demonstrativ dem Haupttempel in Sao Paulo und möchte nach seiner Laufbahn als Fußballer dort Pastor werden. Dass die Vorsteher seiner Pfingstkirche wegen Geldwäsche und Devisenschmuggel in einem US-amerikanischen Gefängnis sitzen, scheint ihn von seinem Vorhaben nicht abzubringen.

Marina Silva, die bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen als Kandidatin für die Grünen ins Rennen geht, ist Anhängerin der Assembléia de Deus. Sie hat eine für viele Brasilianer typische religiöse Karriere hinter sich: Katholisch getauft und erzogen, schloss sich die aus ärmsten Verhältnissen stammende Politikerin nach einigen gesundheitlichen Rückschlägen der Assembléia an. Silvas Werdegang ist eine hervorragende Werbung für die Evangelicos, wie sich die Anhänger der Pfingstgemeinden in Brasilien nennen, denn ihr Erfolg hängt entscheidend ab von Zeugen – von Leuten, die es geschafft haben, Menschen, die ganz unten waren, verzweifelt oder krank, und denen es besser ging, nachdem sie sich einer Pfingstkirche angeschlossen hatten.

Auch Aurelino erzählt gern seine Lebensgeschichte: Als Obreiro  steht er auf der ersten Sprosse der Karriereleiter bei der Universalkirche des Reiches Gottes. Wer noch nicht zu alt ist, kann es bis zum Pastor schaffen. Ein Theologiestudium braucht man nicht. Was zählt, ist eine harte Vergangenheit, denn die macht authentisch: „Ich war total am Boden“, berichtet Aurelino prompt und unaufgefordert. „Hier, meine Tätowierung“, sagt er und reißt den Ärmel seines Hemdes hoch, um den bunten Oberarm zu zeigen. „Bei mir drehte sich alles nur um Drogen, Marihuana und Kokain. Mir ging es schlecht, sogar meine Zähne sind ausgefallen.“ Der 47-Jährige steckt die Finger in den Mund und nimmt zuerst das untere Gebiss heraus, dann das obere. Es besteht kein Zweifel, das Leben dieses Mannes muss die Hölle gewesen sein. „Aber dann kam ich zu Gott“, erzählt Aurelino. „Jesus hat mich gerufen, ich bin in die Kirche gegangen, und nun seht mich an.“ Er streicht an seiner schicken Krawatte entlang und hebt die Hand gen Himmel. „Gott hat mich gerettet. Ich und alles, was ich habe, gehört ihm.“

Es wird kein Geheimnis daraus gemacht, dass es vor allem ums Geld geht. „Die IURD pflegt einen besonders aggressiven Stil“, erklärt Alexander Gropper. Im Mittelpunkt stünden die physische Heilung, die öffentliche Teufelsaustreibung und die Eintreibung von Spenden. Am Karfreitag werden wir gemeinsam Zeuge, wie der Pastor innerhalb des zweistündigen Cultus mehrfach Geldspenden einfordert, so genannte Ofertas. Dabei verweist er einerseits auf den Zehnten und nennt zusätzlich konkrete Summen. „Sieben Reais für Gott“, ruft er den Gläubigen zu. „Ist das etwa viel?“ „Nein!“, schreien ihm die Anhänger wie aus einem Mund entgegen, und schon schwirren etwa 60 Helfer schnell wie emsige Bienen durch die Bänke, um Umschläge zu verteilen, in die das Geld gesteckt werden soll.

Dem brasilianischen Staat scheinen die Hände gebunden. Zum einen sind Religionsgemeinschaften von Steuerabgaben auf ihre eingenommenen Spenden ausgenommen, zum anderen sind alle zahlenden Anhänger freiwillig dort Mitglied. Niemand wird zum Besuch der Gotteshäuser gezwungen, stellt auch Gropper klar. Sicherlich entstehe ein Gruppenzwang, wenn man erst einmal dort sei, das sei Teil des Konzepts, aber trotzdem werde nichts Illegales getan. Trotz einiger Versuche konnte die Regierung den Pfingstkirchen bisher kaum kriminelle Handlungen nachweisen. Edir Macedo, der die IURD 1977 gründete, wurde allerdings 1992 wegen Geldwäsche, Scharlatanerie und Verwicklung in den Drogenhandel zu einer Haftstrafe verurteilt.

Mittlerweile lebt der ehemalige Verkäufer in einer Lottoannahmestelle jedoch in den USA und ist Besitzer des zweitgrößten brasilianischen Medienunternehmens, dem Rede Record. Charakteristisch für die IURD sind deshalb laut Gropper die starke Medienpräsenz, ihre kompetente Verwaltung und ihr explosives Wachstum sowohl in Brasilien als auch im Ausland. In mehr als 170 Ländern ist sie bereits vertreten und vor allem besonders arme Regionen stehen im Zentrum ihres Interesses. Dieses Vorgehen ist ein wichtiger Bestandteil des Erfolgskonzeptes. „Sobald in Brasilien irgendwo eine neue Favela entsteht, sind die Pfingstkirchen die ersten, die da sind“, erläutert Gropper. „Das schafft keine katholische Kirche, die ihre Priester über Jahre hinweg ausbildet“.

Doch es wäre zu einfach, den Pfingstkirchen vorzuwerfen, sie beuteten ihre Mitglieder nur aus. Tatsächlich stellt sich im Leben vieler Menschen eine Besserung ein, nachdem sie sich ernsthaft auf eine Pfingstkirche eingelassen haben. Sie werden dazu angehalten, sich ordentlich anzuziehen, es gibt strenge Regeln, die Drogen, Alkohol, Gewalt und Diebstahl verbieten. In Zeitungen finden sich Anzeigen, in denen steht: Hausmädchen gesucht, Evangelica bevorzugt. Die Pfingstler gelten als verlässlich, weil es ihre Kirche vorschreibt. Auch die Alphabetisierung von Erwachsenen wird durch einige Pfingstkirchen vorangetrieben, weil sie das Lesen in religiösen Büchern zur Pflicht erklären. Doch das hat ebenfalls einen wirtschaftlichen Hintergrund: Mit ihren Buch- und Musik-Veröffentlichungen verdienen die Pfingstkirchen Millionen.

Pastor Jheison Santiago hat in Santa Cruz bei Rio de Janeiro die „Kirche der Wunder“ gegründet.  Zwischen den Cultos teilt er Zettel aus, auf denen der Wochenplan, die Adresse und das Bibelzitat „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ stehen. Und sie kommen. Die 45-jährige Alana zum Beispiel ist Gott sehr dankbar. Nachdem sie in die Gemeinschaft der Evangélicos gekommen war, fühlte sie sich endlich in der Lage, ihren gewalttätigen Mann zu verlassen. Kurz darauf starb ihr Vater, der sie als Mädchen missbraucht hatte. Ihr Sohn hat eine Arbeit als Gärtner gefunden – dank einer Bekannten aus der Kirche. All das führt Alana auf Gott zurück und auf das Leben, das sie in seinem Sinne führt: „Manchmal muss ich mich entscheiden, ob ich eine Rechnung bezahle oder den Zehnten zurücklege“, sagt sie. „Ich entscheide mich immer für Gott und lege das Geld in den Umschlag für die Kirche.“

 

erschienen in Ausgabe 7 / 2010: Andenländer, alte Kulturen neue Politik
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