Das Leid der lebendigen Ladung

Rinder werden auf ein Transportschiff getrieben.
REUTERS/Paulo Whitaker
Rinder werden im Dezember 2017 am Hafen von Santos auf das Transportschiff NADA, das unter libanesischer Flagge fährt, getrieben.
Viehtransporte
Der Export von Rindern in „Rinderschiffen“ bringt Viehzüchtern in Brasilien hohe Gewinne ein, ist aber eine Qual für die Tiere und gefährdet ein ökologisches Paradies und dessen Bewohner.

Die Verschiffung beginnt im Hafen von São Sebastião, einem der wichtigsten Häfen Brasiliens. Der Frachter hat schon angelegt, die Lastwagen stehen bereit, ihn zu beladen. Die Dockarbeiter organisieren die Arbeit gut, so dass alles in kürzester Zeit effizient abläuft. Alles, wie man es erwartet – wäre da nicht ein Detail: Es handelt sich um lebende Fracht.

Im Inneren des sogenannten Rinderschiffs reihen sich nun Tierköpfe aneinander. Tausende Rinder stehen hier in Ställen. Ihnen steht eine Reise über den Atlantik bevor, sie werden tagelang auf hoher See sein. Diese Art des Exports ist legal, sie nutzt Schlupflöcher in der brasilianischen Gesetzgebung, verletzt aber die Grundsätze des Tierschutzes und gefährdet die Umwelt.

Rund um die Hafenanlage erstrecken sich weite Naturschutzgebiete, die der Kommune gehören: unberührte Wälder, paradiesische Strände, rauschende Wasserfälle sowie Mangroven und Sandbänke, die Brutstätten für verschiedene Vögel, Krebstiere und Fische sind. In diesen Gebieten leben Hunderte von Caiçara-Familien, die traditionellen Bewohner der Küstenregionen. Ihre Beziehung zur Natur ist geprägt von großem Respekt und Fürsorge, ihren Lebensunterhalt verdienen sie mit Fischfang.

Genau dort – nahe den Anlegestellen für die Fischerboote – bleiben die Rinderschiffe tagelang vertäut, bevor sie auf die Reise gehen. In dieser Zeit lassen sie Kot und Urin ihrer lebenden Fracht ins Meer ab, die Ausscheidungen gelangen dann in die Nahrungskette des Ökosystems der Region. Außerdem sehen die Fischer dort Tiere in Not und hoffen inständig, dass es keinen Unfall gibt. Denn nach einem Schiffsunglück würden massenhaft verendete Rinder im Wasser treiben.

"Brasilien ist die Rinderfarm der Welt"

„Das Wirtschaftsmodell Brasiliens, das uns zur Rinderfarm der Welt gemacht hat, hat zur Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen und unserer Bevölkerung geführt“, kritisiert die Aktivistin Melina Prestes. Sie ist Mitglied der Organisation Carga Viva, Não! („Lebendige Fracht, nein!“), die sich gegen die Verschiffung von lebendem Vieh in der Gemeinde São Sebastião engagiert.

Rinder werden von drei brasilianischen Häfen aus verschifft: Barcarena im Bundesstaat Pará im Norden des Landes, Rio Grande im Bundesstaat Rio Grande do Sul im Süden und São Sebastião im Bundesstaat São Paulo im Südosten. Der Transport lebender Tiere kam 2004 in Schwung. Er verhilft Viehzüchtern, Rindfleisch zu geringeren Steuern zu exportieren. Denn ein brasilianisches Gesetz aus dem Jahr 1996 befreit die Ausfuhr von unverarbeiteten Primärprodukten von einer der wichtigsten Steuern des Landes, der Steuer auf den Waren- und Dienstleistungsverkehr (ICMS), die an die brasilianischen Bundesstaaten gezahlt wird. 

„São Paulo verdient nichts an diesen Transporten. Sie bereichern nur die Viehzüchter – auf Kosten der Tiere, die leiden müssen, und ist mit Risiken für die Umwelt und die Menschen behaftet“, sagt die Tierärztin Vânia Plaza Nunes, fachliche Leiterin des Nationalen Forums für Tierschutz und -verteidigung. „Schädliche Auswirkungen werden nicht einmal überwacht.“ Zwar gebe es einige Leitlinien für Viehtransporte. Diese würden aber in der Praxis nicht befolgt, auch weil ihre Einhaltung nicht kontrolliert werde.

Die meisten Transporte gehen in die Türkei und den Nahen Osten

Im Hafen von São Sebastião verkehren mehrere Arten von Rinderschiffen, von denen die kleinsten 5.000 und die größten bis zu 23.000 Rinder transportieren können. Allein im letzten Jahr wurden mindestens 136.000 Tiere vom Hafen in São Sebastião aus verschifft. In den ersten vier Monaten des Jahres 2024 waren es bereits 15.400, wie die Bewegung Carga Viva, Não! auf der Grundlage der von der Hafenbehörde veröffentlichten Daten festgestellt hat. 

Die wichtigsten Bestimmungsländer des Hafens von São Sebastião sind die Türkei und Länder des Nahen Ostens. Dort will man die Tiere im eigenen Land schlachten, weil die religiösen Grundsätze nur eine Halal-Schlachtung erlauben. Nach Angaben der arabisch-brasilianischen Handelskammer sind zwar mindestens 90 Prozent der brasilianischen Schlachthöfe für die Herstellung von Halal-Fleisch qualifiziert, aber diese Art des Schlachtens wird in Brasilien kaum praktiziert. 

Im Hafen von São Sebastião verkehren mehrere Arten von Rinderschiffen, von denen die kleinsten 5.000 und die größten bis zu 23.000 Rinder transportieren können.

Im Jahr 2023 gingen außerdem zusammen rund fünf Prozent der brasilianischen Lebendrinderexporte nach Deutschland, Angola, Bangladesch, Bolivien, China, Kongo, Côte d’Ivoire, Ecuador, USA, Griechenland, Marshallinseln, Liberia, Malta, Panama, Paraguay, Portugal, Senegal und Uruguay . Diese Daten stammen vom Außenhandelssekretariat der brasilianischen Regierung.

Starker Gestank hängt über Stadt und Stränden

Das Staatssekretariat für Umwelt, Infrastruktur und Logistik der Regierung des Bundesstaates São Paulo, das für die Abläufe im Hafen von São Sebastião zuständig ist, teilt in einer Erklärung mit, dass „alle Verfahren und technischen Standards im Hafenbetrieb strikt eingehalten werden, unabhängig von der Art der am Terminal umgeschlagenen Fracht“. Die Aktivitäten im Hafen werden von der Hafenbehörde und von Aufsichtsstellen überwacht, begleitend finden Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitskontrollen statt, so das Staatssekretariat. „Risikomanagement ist Teil des Prozesses, und die Mitarbeiter sind darin geschult, Situationen zu erkennen und zu beheben, die zu Zwischenfällen führen könnten.“

In São Sebastião selbst bleiben die Lebendviehtransporte nicht unbemerkt: „Ein sehr starker Geruch erfüllt die Stadt und die Strände“, sagt der Kleinfischer Humberto. Die Geruchsbelästigung dehne sich auch auf die benachbarten Küstengemeinden aus, vor denen die Viehtransportschiffe geparkt, gewaschen und desinfiziert werden. „Die Tiere werden unter schrecklichen hygienischen Bedingungen transportiert, und das hat Auswirkungen auf die Städte der Region, die vom Tourismus leben. Kein Tourist möchte an einem Ort sein, an dem es so stinkt“, meint er. „Wir haben Angst, dass die Exkremente an die Strände gelangen und zum Futter für die Krabben werden, die wir fischen – unsere Haupteinnahmequelle.“

Sorge bereitet den Anwohnern auch die Gefahr von Unfällen mit den Viehschiffen. Denn die Frachter sind größtenteils nicht für die Beförderung von Tieren konzipiert, die meisten haben davor Getreide transportiert. Man hat sie umgerüstet, doch die Anpassungen machen ihre jetzige Nutzung nicht hundertprozentig sicher, wie eine Untersuchung der Bewegung Carga Viva, Não! ergeben hat.

Tausende verrottende Rinderkadaver an den Stränden

Ein schwerwiegender Vorfall ereignete sich vor fast zehn Jahren im Hafen von Barcarena, dem Porto de Vila do Conde, der mitten im Regenwald liegt, an der Mündung des Flusses Pará in den Atlantik: Es war gegen acht Uhr am 6. Oktober 2015, der Betrieb war in vollem Gange. Plötzlich hallte ein Warnsignal durch die Hafenanlage. Das unter libanesischer Flagge fahrende Schiff Haidar hatte 700.000 Liter Treibstoff getankt und sollte 5.000 Stück Lebendvieh des Agrarriesen Minerva nach Venezuela bringen. Doch kurz nachdem die Tiere verladen waren, kippte das Schiff auf den Pier.

Es folgten schreckliche Szenen: In Panik geratene Tiere kämpften im Wasser um ihr Überleben und versuchten, sich zu retten, ein riesiger Ölteppich überzog große Flüsse im Amazonasgebiet, während das Schiff langsam versank. Innerhalb weniger Stunden türmten sich Tausende von verrottenden Rinderkadavern an den Stränden, teilweise mehr als 30 Kilometer vom Hafen entfernt.

„Es ist wichtig, das, was da passiert ist, klar zu benennen: Das war kein Unfall, sondern ein Verbrechen. Studien hatten zuvor auf die ökologischen und sozialen Risiken dieser Art von Transport hingewiesen“, sagt der Fischer Mário Santos, der in Barcarena lebt. „Ist das die sogenannte Entwicklung, die wir für unser Land wollen? Für wen soll diese Entwicklung gut sein?“

Der Fischfang ist immer noch nicht gestattet

Die Folgen waren alsbald spürbar: Der Zivilschutz, zuständig für Sofortmaßnahmen bei Unfällen und Katastrophen, untersagte den Anrainergemeinden die Nutzung des Flusswassers. Darin zu baden und es zu trinken, wurde verboten, ebenso das Fischen, die wichtigste Nahrungs- und Einkommensquelle der Familien. Fast zehn Jahre später ist der Fischfang in mehreren betroffenen Gemeinden noch immer nicht gestattet und das havarierte Schiff noch immer nicht aus dem Wasser geborgen.

Autorin

Sarah Fernandes

ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.

„Fischerkollegen berichten, dass sie im Laufe der Jahre einige Male riesige, fleischfressende Anakonda-Schlangen in der Nähe des Schiffswracks gesehen haben. Das stellt eine Gefahr für uns alle dar. Unsere Strände waren mit Grünalgen bedeckt, was hier untypisch ist“, sagt Mário. „Fische und Schalentiere sind durch verrottendes Fleisch verunreinigt worden. Daher können sich unsere Leute nicht mehr selbst versorgen. Wie sollen wir den Fisch vermarkten? Die Leute haben Angst, dass er verseucht ist, und sie haben recht.“

Nur wenigen Fischern gelang es, eine Entschädigung für den Unfall zu erhalten. Die fünf Unternehmen, die für das libanesische Schiff, die Ladung und den Hafen verantwortlich waren, wurden zu einer Geldstrafe von umgerechnet 538.000 Euro verurteilt. Das Geld wird für soziale Projekte in der Region verwendet, etwa für Projekte zur wirtschaftlichen Eingliederung von Frauen in Barcarena.

Tierschützer berichten von Tierquälerei während des Transports

Trotz der verhängnisvollen Folgen, die das Kentern des Schiffes hatte und hat, werden im Hafen von Barcarena (und auch in den beiden anderen Häfen) weiterhin Rinder lebendig verschifft. Barcarena ist mit mindestens 500.000 Tieren pro Jahr landesweit führend bei der Ausfuhr dieser Art von Fracht. Davon gehen nach Angaben des brasilianischen Zuchtverbandes von Brangus-Rindern, dem auch Rindfleischproduzenten angehören, etwa 90 Prozent nach Venezuela. 

Nicht nur die Umwelt ist in Gefahr, Tierschutzorganisationen berichten von Tierquälerei und unzureichenden hygienischen Bedingungen für die Rinder während des Transports. Sie beanstanden lange, unsichere Land- und Seetransporte sowie enge Ställe, in denen die Tiere keinen Platz haben, sich hinzulegen oder die Position zu wechseln; außerdem Wassermangel und eine Fütterung, die nicht dem Standardfutter für Rinder entspricht.

Die Organisation Carga Viva, Não! („Lebendige Fracht, nein!“), die sich gegen die Verschiffung von lebendem Vieh in der Gemeinde São Sebastião engagiert, hat bei den Viehtransporten Tierquälerei dokumentiert.

Im Jahr 2023 verurteilte das Gericht von São Paulo  das Fleischverpackungsunternehmen Minerva wegen Misshandlung von 30.000 Rindern beim Transport zum Hafen von Santos. Einige Monate danach stellte es den Transport von Lebendvieh ein. Das Unternehmen wurde zur Zahlung einer Entschädigung für den kollektiven moralischen Schaden in Höhe von 250.000 Dollar verurteilt. Denn die Fahrzeuge, in denen die Tiere zum Hafen gebracht worden waren, waren schlecht belüftet, boten zu wenig Platz und wiesen „gesundheitsgefährdende Karosserien mit Holzverkleidung in schlechtem Zustand“ auf, so das Ergebnis der Untersuchung.

Über die Viehtransporte wird regional und national abgestimmt

Ein weiterer Punkt, der mit der brasilianischen Gesetzgebung nicht übereinstimmt, betrifft die Art der Schlachtung. Nach nationalem Recht muss ein Tier schnell und schmerzlos geschlachtet werden, ohne dass es bei Bewusstsein ist. „Doch in diesem Fall werden die Rinder etwa 20 Tage lang in einem heißen, dunklen und Klaustrophobie erzeugenden Schiff transportiert, ohne die erforderliche Anzahl von Tierärzten an Bord. Am Zielort angekommen, schlachtet man sie nach der Halal-Methode. Die entspricht nicht den Grundsätzen des brasilianischen Rechts“, so der Vorwurf von Melina von der Bewegung Carga Vida, Não! 

Die Bewegung organisiert Proteste, Debatten und Veranstaltungen in São Sebastião, um Parlamentarier und Geschäftsleute in der Region gegen den Transport von Lebendvieh zu mobilisieren. Momentan geht es darum, Unterstützung für die Verabschiedung eines Gemeindegesetzes zu gewinnen, das den Verkehr von Viehtransportlastern durch die Gemeinde verbietet. Dadurch würde verhindert, dass die Tiere überhaupt an Bord von Schiffen geschafft werden können. Der Vorschlag für ein kommunales Gesetz wurde im Mai aus der Beratung und Debatte zurückgezogen. Grund dafür war die erfolgreiche Lobbyarbeit von Unternehmen, die mit dem Transport der Tiere viel Geld verdienen. Sie arbeiten mit den Stadträten von São Sebastião zusammen und konnten sie davon überzeugen, das Projekt auf Eis zu legen – ohne plausible Begründung dafür.

Auf nationaler Ebene werden im Parlament aktuell drei Gesetzesvorhaben im Zusammenhang mit dem Transport lebender Tiere behandelt. Eines davon untersagt den Bundesstaaten, Steuerbefreiungen für die Ausfuhr lebender Tiere zu gewähren, ein anderes sieht vor, die Steuern für diese Art von Geschäften zu erhöhen, und das dritte verbietet für ganz Brasilien die Ausfuhr lebender Tiere zur Schlachtung im Ausland. Letztere Gesetzesvorlage war bis zum 14. Mai Gegenstand einer öffentlichen Konsultation in der brasilianischen Bevölkerung. Endgültige Ergebnisse liegen noch nicht vor, es gibt aber im Moment eine Mehrheit für ein Ausfuhrverbot. 

„Etliche Studien belegen, dass Tiere bewusste Wesen sind, die in der Lage sind, in komplexen Situationen Entscheidungen zu treffen. Viele Juristen haben darüber diskutiert, wie Fortschritte in der Gesetzgebung erzielt werden können, so dass Tiere als Rechtssubjekte und Träger von Würde anerkannt werden. Es ist an der Zeit, in diesem Punkt voranzukommen“, resümiert die Tierärztin Vânia.

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

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