Viel Hilfe – viele Mängel

Von Ralf Leonhard

Nach dem Tsunami vom Dezember 2004 erhielt auch Sri Lanka enorme Mengen internationaler Hilfe. Dennoch ist vier Jahre nach der Katastrophe der Wiederaufbau im Norden und Osten der Insel längst nicht abgeschlossen. Die Hilfe wirkt nicht überall – wegen des Konflikts zwischen der Regierung und den Rebellen, aber auch weil Helfer mit den lokalen Umständen zu wenig vertraut sind

„Es war grauenhaft“. Mit Schaudern erinnert sich Jayandram an die zweieinhalb Jahre, die er in einem Obdachlosenlager für Tsunami-Opfer in Kallady in Sri Lanka verbracht hat. Er lebte zusammengepfercht mit anderen Familien in scheunenartigen Konstruktionen aus Wellblech, die am Tag unerträglich heiß wurden. Im Inneren konnten aufgehängte Decken ein Minimum an Intimsphäre bestenfalls simulieren. Inzwischen steht Jayandrams neues Haus – genau an der Stelle, von der der Tsunami am 26. Dezember 2004 das alte weggespült hatte. Nur 100 Meter entfernt befindet sich der Gedenkstein, auf dem die Namen der Einwohner des Bezirks Kallady verewigt sind, die bei der Flutkatastrophe starben.

Die gekachelten Böden verraten, dass die sechs Bewohner auf gediegene Lebensumstände Wert legen und sie sich auch leisten können. Gebaut hat das Haus die kirchliche Organisation Samaritan’s Purse mit Sitz in South Carolina, USA. Für die Erweiterung und die Extras musste die Familie umgerechnet 15.000 Euro zuzahlen. Der 28-jährige Jayandram hat einen Job bei der Organisation und verfügt damit über ein regelmäßiges Einkommen.

Kallady liegt auf einem halbinselförmigen Küstenstreifen vor der Stadt Batticaloa an Sri Lankas Ostküste. Die Welle traf die ungeschützten Häuser mit voller Wucht. Nur 90 der 320 Familien, die hier lebten, sind geblieben. Die anderen zogen es vor, ein paar Kilometer weiter ins Landesinnere zu ziehen. Denn wer garantiert, dass in ein paar Jahren nicht ein weiteres Seebeben die Küste verwüstet? So denkt auch N. Kanthan, der Chef einer kleinen Fischereigenossenschaft, deren 20 Mitglieder allesamt in Navaladdy, zwei Kilometer weiter nördlich, wohnten. Sein Haus steht acht Kilometer entfernt in einer Neusiedlung, deren Namen viel über den Ursprung des Geldes für den Wiederaufbau verrät: Swiss Tamil Village.

Die Fischer sitzen nach getaner Arbeit in einer Ruine und genießen die kühle Brise. Sie verbringen den Tag an der Küste, wo sie sich aus Palmblättern ein paar Schatten spendende Unterstände gebaut haben, und fahren abends mit dem Fahrrad nach Hause. Kanthan, der nicht nur sein Haus, sondern auch zwei seiner sechs Kinder während des Tsunami verloren hat, findet das in Ordnung: „Ich bin froh, wenn ich hierher kommen kann, um zu fischen, und bin dann wieder froh, wenn ich nach Hause fahre, wo es sicher ist.“

Weniger glücklich ist S. Vaddanaruby. Die junge Frau teilt sich mit ihren drei Kindern und zwei weiteren Familien einen heruntergekommenen Betonbau in einem Dorf wenige Kilometer außerhalb von Batticaloa. Sie bewohnt einen schäbigen Anbau aus Wellblech. Es ist heiß, aus einem Fernsehgerät tönt eine wilde Schießerei. Die 25-Jährige wohnte an der Küste der Stadt Muthur, rund hundert Kilometer nördlich, als die Welle kam. Das Gebiet wurde damals von der Rebellenorganisation Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) kontrolliert. Einen Wiederaufbau ließ die singhalesisch dominierte Regierung dort kaum zu. Vaddanaruby und ihr Mann fanden Unterschlupf bei Verwandten. Als die Armee Mitte 2006 begann, das Gebiet militärisch zurückzuerobern, hagelte es wochenlang Bomben und Artilleriegeschosse. Auf der Flucht Richtung Batticaloa wurde Vaddanarubys Mann getroffen. Dinojan, der jüngste Sohn, war damals noch ein Säugling. Ob die Familie eines Tages eine würdige Bleibe bekommt, ist völlig offen.  Das ist kein untypisches Schicksal an Sri Lankas leidgeprüfter Ostküste: Viele waren hier Kriegsvertriebene, bevor sie Opfer des Tsunami wurden und dann erneut vor dem Krieg flüchten mussten. Ein Fünftel der etwa 500.000 Einwohner des Bezirks Batticaloa wurde in den vergangenen zwei Jahren vertrieben oder evakuiert. Intern Vertriebene lautet der Fachbegriff für diese Menschen, die größtenteils vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und internationalen Hilfswerken mit dem Nötigsten versorgt werden. Sie kommen aus jenen dünn besiedelten Gebieten im Landesinneren, die 80 Prozent der Fläche des Bezirks ausmachen.

Die Mehrheit der Tsunami-Opfer aus dieser Region lebt vier Jahre nach der Katastrophe noch in behelfsmäßigen Unterkünften oder bei Freunden und Angehörigen. Während der Wiederaufbau entlang der Südküste weitgehend abgeschlossen ist, schätzen Experten, dass in den drei Distrikten der Ostküste weniger als die Hälfte der Obdachlosen bereits ihr neues Haus beziehen konnten. Geschätzte 38.000 Menschenleben hatte die Katastrophe allein in Sri Lanka gefordert, über 100.000 Häuser weggespült oder irreparabel beschädigt – 60 Prozent davon im Norden und Osten, wo die tamilischen und muslimischen Minderheiten leben .  Trotzdem wurde der von der singhalesischen Mehrheitsbevölkerung bewohnte Süden beim Wiederaufbau bevorzugt. In Hambantota, dem Wahlkreis von Präsident Mahinda Rajapakse, rühmt man sich, das Hausbauprogramm zu 173 Prozent erfüllt zu haben. An der Ostküste lag die Quote nach drei Jahren bei bescheidenen 39 Prozent, wie die staatliche Reconstruction and Development Agency (RADA) damals zugeben musste. Im Jahr eins nach dem Tsunami, während im dicht besiedelten Süden bereits heftig gebaut wurde, herrschte im Norden und Osten praktisch Stillstand. Die Bürokratie kam mit der Zuteilung von neuen Bauflächen nicht zurecht und monatelang wurde über die Breite der Pufferzone zum Strand gestritten: Ursprünglich sollte ein Kilometer von der Küstenlinie überhaupt nicht mehr gebaut werden dürfen.

Das war aus Sicherheitserwägungen begründbar, aber bei den Fischern extrem unbeliebt, vor allem wenn ihre Ansiedlung weit entfernt geplant war. Dann kam der Wahlkampf und die Spitzenkandidaten überboten sich beim Reduzieren des Sicherheitsabstands: 300 Meter, dann 100 Meter. Schließlich wurde komplett auf die Pufferzone verzichtet. Heute stehen manche Häuser wieder 30 Meter vom Strand entfernt.  Die Spendenwelle, die Milliarden Dollar ins Land spülte, und der sprunghafte Anstieg der Nachfrage nach Baumaterial trieben die Inflation an. Die internationale Spendenbereitschaft war enorm: pro Opfer 5000 US-Dollar. Bei anderen Naturkatastrophen sind es gerade einmal drei bis vier. Kein Wunder, dass sich der Preis von Zement fast verdoppelt hat und eine Wagenladung Bausand fast dreimal soviel kostet wie vor dem Tsunami. Dadurch wurden die Kalkulationen für den Wiederaufbau über den Haufen geworfen. Wo eigentlich 2000 Häuser geplant waren, konnten nur noch 600 finanziert werden, sagt eine Mitarbeiterin von US-AID in Trincomalee. Manche Bauherren sparten auch am Material. So kann man heute den einen oder anderen Neubau sehen, der die ersten Risse in der Wand aufweist.

Außerdem erzeugte die srilankische Regierung ein feindliches Klima für ausländische Hilfswerke. Visa für Mitarbeiter, die die Bauarbeiten überwachen sollten, wurden verweigert, Vertreter von Spendenorganisationen aus Koordinationssitzungen regelrecht hinausgeworfen. Vor allem der Regierungsvertreter in Trincomalee, ein ehemaliger Armeeoffizier, erwarb sich einen Ruf als Fremdenfeind. Er unterstellte den ausländischen Helfern pauschal, mit der LTTE zu sympathisieren. Tatsächlich setzten sich vor allem ausländische Organisationen für den Wiederaufbau auch in den LTTE-kontrollierten Gebieten ein.  Die Regierung hingegen missachtete ein unter Vermittlung Norwegens mit den Rebellen geschlossenes Abkommen, das die Diskriminierung der Tamilengebiete verhindern sollte.

Der Post Tsunami Operational Mechanism (PTOM), zu dem allein die Europäische Union 50 Millionen Euro beisteuerte, sah vor, dass die Regierung, die LTTE und die muslimische Gemeinde gemeinsam über den Einsatz des Geldes im Norden und Osten entscheiden sollten. Der Regierung gelang es jedoch, die Umsetzung so lange hinauszuzögern, bis der Oberste Gerichtshof das Abkommen auf Antrag einer nationalistischen Partei Ende 2005 kippte.

Die ausländischen Hilfsorganisationen wurden mit Misstrauen gesehen. Gleichzeitig waren die schlecht qualifizierten Beamten in der Lokal- und Zentralverwaltung den Koordinierungsaufgaben nicht gewachsen, wie ein europäischer Experte mit langjähriger Erfahrung im Land versichert. Die Weltbank stellte schon nach zwei Jahren fest: „Besonders besorgniserregend waren unbestätigte Berichte über finanzielles Missmanagement, über die widersprüchliche Anzahl zerstörter Häuser und über Hilfe, die die Bedürftigsten nicht erreicht. Die unterschiedliche Geschwindigkeit der Bautätigkeit in den verschiedenen Bezirken hat die sonst anständigen Erfolge des Post-Tsunami Wiederaufbaus getrübt“. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Auch unvorbereitete Helfer, die mit den Spenden einer Gemeinde oder kleinen nichtstaatlichen Organisation (NGO) ins Land kamen, schädigten den Ruf der Tsunami-Hilfe. Legendär ist die Anschaffung einer Espressomaschine im Hotel Ocean View am Strand von Trincomalee, durchgesetzt von eine Gruppe von Italienern, die dort monatelang residierte. Wenig überlegt war auch eine griechische Initiative, die ein Kreuzfahrtschiff gechartert hatte und monatelang vor der Küste vor Anker lag, um medizinische Hilfe anzubieten. Die Tsunami-Opfer waren aber längst an ihren Verletzungen gestorben oder geheilt aus den Krankenhäusern entlassen worden. Und dann gab es noch die Norweger, die mit einer Ladung Fischerboote ankamen und jedem, der darum bat, eines aushändigten. Manche Dörfer haben heute ein Vielfaches der Boote, die sie vorher besaßen.

Trotzdem hat der Entwicklungsökonom Muttukrishna Sarvananthan im Jahr 2005 herausgefunden, dass die Mehrheit der vom Tsunami betroffenen Familien ärmer war als vorher und die meisten von ihnen sogar in extremer Armut lebten. Ursachen dafür waren laut seiner Studie für das Point Pedro Institute of Development unter anderem die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen sowie der Verlust von Dokumenten, der das Abheben von Geldsendungen Verwandter aus dem Ausland verhinderte. An diesen Erkenntnissen hat sich seiner Einschätzung nach in den zurückliegenden beiden Jahren wenig verändert.

Als die Regierung 2006 ihren Feldzug entlang der Ostküste begann, kam der Wiederaufbau ins Stocken. Bauleiter aus Colombo suchten das Weite und ließen ihre Baustellen im Stich. Das ausländische Personal wurde aus Sicherheitsgründen abgezogen oder in den Städten konzentriert. Mit solchen Problemen hatte auch E. Kareem von Sarvodaya, der größten nichtstaatlichen Organisation (NGO) des Landes, zu kämpfen. Er musste sich um den Wiederaufbau des tamilischen Dorfes Vaddavan kümmern, rund 20 Kilometer nördlich von Batticaloa. Weit später und teurer als geplant entstand deshalb die Modellsiedlung, die mit Mitteln der österreichischen Tagezeitung „Kurier“ finanziert und vom Wiener Institute for Integrative Conflict Transformation and Peacebuilding (IICP) koordiniert worden ist. Was sie von den meisten Wiederaufbauprojekten unterscheidet, ist die Mitwirkung der Bevölkerung. Jede Familie durfte entscheiden, wo ihr Haus stehen und nach welcher Richtung es ausgerichtet sein soll. Die hinduistischen Geister müssen berücksichtigt werden. Deswegen stehen die Häuschen auch nicht in Reih und Glied, sondern bunt durcheinander gewürfelt.

Eines von ihnen gehört Baheerathan. Der 26-Jährige hat vor zwei Monaten Arbeit in der Gesundheitsverwaltung in Batticaloa gefunden. Während der Bauarbeiten verdiente er ganz gut als Lieferant von Ziegeln und von Sand aus einem kleinen Küstengrundstück. Obwohl er vor sechs Jahren bei einer Bombenexplosion ein Bein verloren hat, half er beim Hausbau mit. Von seinem bescheidenen Wohlstand zeugt der gekachelte Wohnzimmerboden, auf dem zwei kleine Kinder ihren Mittagsschlaf halten, und das Fernsehgerät, das von einer Solarzelle auf dem Dach betrieben wird.

Eine Bibliothek, eine Gesundheitsstation und ein Gemeindezentrum für Versammlungen und Kulturveranstaltungen stärken das Gemeinschaftsgefühl im Dorf. Das half auch, als sechs junge Männer von der paramilitärischen tamilischen Organisation Tamil Makkal Viduthalai Pulikal (TMVP) zwecks Rekrutierung verschleppt wurden. Es gelang, sie mit Hilfe von Verhandlungen wieder frei zu bekommen. Das Dorf Vaddavan konnte sich dem Bürgerkrieg entziehen – vorerst. Denn in Sri Lanka wurde die historische Chance vertan, unter dem Eindruck der gemeinsam erlittenen Katastrophe eine Versöhnung der Konfliktparteien zu erreichen.

Ralf Leonhard ist freier Journalist in Wien. Er hat Sri Lanka nach dem Tsunami 2004 mehrfach bereist, zuletzt im Oktober und November 2008.

erschienen in Ausgabe 12 / 2008: Wirkung der Entwicklungshilfe

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