„Ein Ziel ist, Unternehmer wieder in die Kirche zu holen“

Im Juli hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) seine Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ vorgestellt. Das Papier hat unter Globalisierungskritikern, Gewerkschaftern und manchen Theologen scharfe Kritik hervorgerufen und auf der Synode der EKD in Bremen im November lebhafte Debatten ausgelöst (siehe Kasten). Es hat auch Klaus Heidel, der wissenschaftlicher Angestellter der Werkstatt Ökonomie in Heidelberg und Mitglied der EKD-Synode ist, nicht überzeugt. Aber die Vorwürfe der Kritiker hält er für überzogen.

Stimmt der Vorwurf, die Denkschrift sei ein Anzeichen für die Wendung der evangelischen Kirche Richtung Neoliberalismus?

Nein – schon deshalb nicht, weil dies keine Stellungsnahme der Evangelischen Kirche ist. Die Denkschrift ist eine Äußerung des Rates der EKD, erstellt von der Kammer für Soziale Ordnung, die den Rat berät. Nicht einmal die Synode der EKD, geschweige denn die Landeskirchen oder die Werke und Dienste, stehen hinter dieser Denkschrift. Die Forderung, sie zu widerrufen, ist abwegig, denn es gibt in der Evangelischen Kirche keine lehramtlichen Texte, die man widerrufen könnte. Es handelt sich um einen Diskussionsbeitrag, über den man streiten kann. Von den Denkschriften der letzten zehn oder fünfzehn Jahre ist diese die schwächste, aber auf eine neoliberale Wende in der evangelischen Kirche lässt das nicht schließen. Zum Beispiel ist die Erklärung der jüngsten Synode der EKD in Bremen zur Finanzmarktkrise zwar nicht großartig, aber deutlich besser als viele frühere Aussagen zur Globalisierung.

Ein Einwand gegen die Denkschrift ist, dass sie die Debatten über die Globalisierung in der Ökumene und die Auswirkungen unseres Wirtschaftens auf den Süden nicht zur Kenntnis nimmt. Trifft das zu?

Ja und nein. Die Auswirkungen unseres Wirtschaftens auf den Süden werden nur sehr am Rande beachtet. Immerhin wird betont, dass unternehmerisches Handeln stets auf nachhaltige Entwicklung zielen soll. Und die Bezüge zur ökumenischen Diskussion sind in der Denkschrift in der Tat sehr spärlich. Allerdings ist die Diskussion in der Ökumene auch wesentlich vielfältiger, als die Kritiker der Denkschrift das darstellen.

Dominieren dort nicht sehr globalisierungskritische Stimmen?

Im Protestantismus ja. Aber wenn wir über die Debatte in der Ökumene reden, neigen wir dazu, sie zu reduzieren auf die Äußerungen einiger Wortführer innerhalb des Lutherischen und des Reformierten Weltbundes. Das ist  eine Verengung. Zum Protestantismus gehören mehr als die traditionellen Kirchen – etwa evangelikale Kirchen und Pfingstkirchen in Afrika und Lateinamerika, deren Positionen zu sozialen Fragen wir manchmal kaum teilen können. Auch die Haltung der orthodoxen Kirchen müsste berücksichtigt werden. Im Übrigen steht ausdrücklich in der Denkschrift, dass sie zusammen gelesen werden muss mit der früheren „Gerechte Teilhabe“. Sie nimmt auch Bezug auf das Gemeinsame Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland von 1997. Trotzdem wäre es wichtig gewesen, die Überlegungen zur Ethik von Unternehmern auf Debatten in der Ökumene zu beziehen. Zum Beispiel entwickelt zur Zeit eine Arbeitsgruppe im ÖRK als Vorbereitung zu dessen nächster Vollversammlung eine weltweite „greed line“ – also eine Grenze für maximal zu rechtfertigende Einkommen in einzelnen Ländern, analog zur Armutsgrenze.

Die Denkschrift empfiehlt gegen die internationale Ungleichheit die Globalisierung der sozialen Marktwirtschaft. Ist das realistisch?

Diese Vorstellung ist entwicklungspolitisch geradezu blind. Nur ein Beispiel: In Afrika sind in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren 80 Prozent der neuen Arbeitsplätze im informellen Sektor entstanden. Auch Teile des Bildungswesens und sogar des Regierens sind informell. Unsere Vorstellungen von Markt und Marktwirtschaft greifen da überhaupt nicht. In China passen sie aus anderen Gründen nicht. Mir geht es bei der Debatte um „soziale Marktwirtschaft“ nicht um Ideologie, sondern darum, ob überhaupt angemessen erfasst wird, wie andere Wirtschaften funktionieren. Die Vorstellung, wir könnten unser Sozialmodell, das seit Mitte der 1970er Jahre auch bei uns in der Krise ist, in den Süden übertragen, überzeugt mich nicht.

Verteidiger der Denkschrift weisen darauf hin, ihr Thema seien in erster Linie Überlegungen zur Ethik für Unternehmer. Ist das richtig?

Ein großer Teil der Denkschrift liest sich in der Tat wie ein Text über die ethische Verantwortung mittelständischer Unternehmer und Handwerker. Zuerst geht es im Text um die Ethik von Personen, später aber plötzlich zugleich um die Ethik von Unternehmen, also von Institutionen, und einmal auch um die unternehmerische Verantwortung von Aktionären. Das ist in Zeiten des Shareholder Value, in denen die Interessen der Aktionäre Vorrang haben, etwas ganz anderes als die Frage, wie ein Handwerksmeister sich verhalten sollte. Dass die verschiedenen Typen unternehmerischen Handelns nicht unterschieden werden, gehört zu den großen Schwächen dieser Denkschrift. Nach meinem Eindruck ist sie zumindest in den letzten Jahren diejenige, die am wenigsten ihre inneren Widersprüche überdecken kann.

Ist eine Ethik für mittelständische Unternehmer sinnvoll, wenn man strukturelle Probleme in der Wirtschaftsordnung ausblendet?

Ja und nein. Die Denkschrift erwartet von einem christlich motivierten Unternehmer zum Beispiel, dass er Arbeitsplätze schafft, Mitbestimmung einräumt, seine Angestellten gleichberechtigt behandelt, sein Unternehmen langfristig am Markt halten will und nicht nur den Profit im Auge hat. Das sind schon bedeutsame Vorgaben. Aber wenn man fragt, wie in der heutigen Situation ein Unternehmer christlich begründet handeln kann, muss man auch die Spannung zwischen diesem individuellen ethischen Anspruch und den strukturellen Zwängen bedenken. Es fehlt die Diskussion, ob ethische Erwartungen angesichts der Umstände erfüllbar sind und welche Rahmenbedingungen dazu nötig sind. Aber die Denkschrift legt an die Rahmenbedingungen keine ethischen Maßstäbe an, sondern stellt sie einfach als äußere Gegebenheit hin. Das führt zu Verallgemeinerungen wie: „Wenn der Wettbewerb funktioniert, werden weder Konsumenten noch Arbeitnehmer ausgebeutet und es gibt keine Diskriminierung.“ Das ist schon immer sehr fragwürdig und seit der Finanzkrise kann so etwas eigentlich niemand mehr sagen.

Die Denkschrift bewertet aber auch Rahmenbedingungen – schon in der ersten These ist von der „verantwortlichen Gestaltung der Wirtschaft“ die Rede.

Das ist das Problem. Die Denkschrift hat den Anspruch, auf der individual-ethischen Ebene zu argumentieren, berührt aber immer wieder weit darüber hinaus gehende Themen. Besonders deutlich ist das im Kapitel über die Kapitalmärkte, das sehr problematisch ist. Es lässt kaum erkennen, wo hier Spielräume individuellen ethischen Verhaltens sein sollen. Zwar findet man in dem Kapitel die Aussage, dass für diese Märkte neue Regulierungen nötig sind. Aber über diese Mängel hätte viel klarer geredet werden müssen. Das Kapitel bestreitet beinahe, dass man Kapitalmärkte regulieren kann. Angesichts des Desasters auf den Finanzmärkten ist diese Position nicht mehr nachvollziehbar.

Ist die Denkschrift da, wo sie Aussagen zu Rahmenbedingungen macht, nicht etwas einseitig? Zum Beispiel fordert sie das Ende der Frühverrentung, mehr private Altersvorsorge und Lohnflexibilität, aber nicht eine Grundsicherung, einen Mindestlohn oder die Umkehr des Trends, dass der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen auf Kosten des Lohnanteils steigt.

Ja. Hier haben die Kritiker Recht. Ein kaum verstecktes Interesse dieser Denkschrift ist, den Berufsstand der Unternehmer wieder in die Kirche zu holen. Überspitzt gesagt: Nachdem der linke Protestantismus jahrzehntelang auf die Unternehmer geprügelt hat, will man zeigen – gar nicht so sehr den Unternehmern als den linken Gemeindegliedern –, dass Unternehmer auch ganz gute Christen sein können. Damit signalisiert die Denkschrift den Unternehmern: Wir prügeln nicht mehr auf Euch ein, haltet Euch wieder an die Kirche. Zwar ist es richtig, dass die Volkskirche offen ist für alle Berufsgruppen, und sicher ist es gut, wenn es christliche Unternehmerinnen und Unternehmer gibt. Aber es ist problematisch, wenn die Frage nach der Einstellung der evangelischen Kirche zu unternehmerischem Handeln unreflektiert vermischt wird mit der Frage, wie einzelne Unternehmerinnen und Unternehmer unter den Zwängen globaler Märkte verantwortlich handeln können.

Erklärt das auch, dass der Text so widersprüchlich ist?

Der Hintergrund der Widersprüche in der Denkschrift ist offensichtlich, dass sie von verschiedenen Personen verfasst wurde, die Probleme hatten sich zu einigen. Der erste Entwurf des Kapitels zu den Finanzmärkten stammt zum Beispiel von jemanden, der der Finanzwirtschaft sehr nahe steht. Es gab auch eine heftige Debatte, ob man Mindestlöhne fordern soll, und die Befürworter sind unterlegen. Es wäre aber nicht ehrenrührig und im Grunde besser, wenn die Kirche sagen würde, zu einer gesellschaftlich umstrittenen Frage gibt es auch in der Kirche unterschiedliche Interessen. Vielleicht sollte eine Denkschrift die auch einmal thematisieren und fragen, wer eigentlich als Kirche spricht. Denn die Kirche steht ja nicht außerhalb der gesellschaftlichen Konflikte, sie ist ein Teil davon.

Man hätte besser unterschiedliche Positionen schildern und die Uneinigkeit offenlegen sollen?

Genau. Dann hätte man überlegen können, wie man in diesen komplizierten Debatten weiterkommt – etwa wer daran beteiligt werden sollte. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass in einer Denkschrift über die Ethik unternehmerischen Verhaltens auch die Perspektive der Beschäftigten sehr deutlich auftaucht.

Ignoriert die in der Denkschrift vertretene Ethik, dass Unternehmer auch politisch handeln – etwa wenn ihre Verbände gezielt Einfluss auf die Politik nehmen?

Ja. Sie befasst sich überhaupt nicht mit den starken Versuchen von Unternehmen, die Haltung der Gesellschaft etwa zur Globalisierung zu beeinflussen. Die Diskussionsmacht ist in unserer Gesellschaft an Einkommen gekoppelt, und die öffentliche Meinung wird enorm von Unternehmensinteressen bestimmt. Nur ein Beispiel: Der Entwurf des jüngsten Gesetzespakets zur Rettung der deutschen Banken ist in den Etagen dieser Banken entstanden – ähnlich wie die meisten Beschlüsse der vergangenen Jahre, die Banken betreffen. Stellen Sie sich einmal vor, das Arbeitsrecht würde von Gewerkschaften geschrieben – was für ein Aufschrei würde da durch die Republik gehen? Es wäre spannend, wenn wir als evangelische Kirchen diese einseitige Debatte aufbrechen würden, indem wir nicht moralisieren, sondern sagen: Unternehmerinnen und Unternehmer haben Interessen, und die sind legitim – genauso legitim sind aber die von Beschäftigen und Arbeitslosen. Warum organisiert die Kirche nicht einen Diskurs über Unternehmensethik, an dem Unternehmer, Beschäftigte und Arme gleichberechtigt teilnehmen können? Wenn wir von der Option für die Armen ausgehen, müssen wir deren Stimmen ernst nehmen. Das ergibt sich auch aus den Menschenrechten.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

Klaus Heidel ist leitender Mitarbeiter der Werkstatt Ökonomie in Heidelberg und Mitglied der 10. EKD-Synode, die im November in Bremen getagt hat.

 

Umstrittene Denkschrift

Der Rat der EKD hat mit der im Juni 2008 vorgelegten Unternehmer-Denkschrift, so das Vorwort, „zu einem neuen Dialog zwischen evangelischer Kirche und Unternehmertum“ eingeladen. Sie bezeichnet unternehmerisches Handeln als eine „Quelle für gesellschaftlichen Wohlstand“, es müsse sich aber an „ethische Grundsätze gebunden wissen“. Hierfür werden christlich begründete Leitlinien erörtert, besonders für die Beziehungen im Betrieb. Die Denkschrift äußert sich auch zur Marktwirtschaft, zu Kapitalmärkten sowie zur Globalisierung – unter anderem verteidigt sie den freien Handel und spricht der Verwirklichung von Kernarbeitsnormen „wachsende Bedeutung“ zu. Sie verweist auf die Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ von 2006, die genauer auf Armut in Deutschland und auf sozial-, bildungs- und familienpolitische Wege zu mehr Gerechtigkeit eingeht.

Die Schrift hat scharfen Protest hervorgerufen. Zwölf Theologen und Sozialwissenschaftler haben in einem Memorandum kritisiert, der Text beschönige die soziale Lage in Deutschland und ignoriere die Kritik aus der Ökumene an der Globalisierung. Mit der Bezeichnung „soziale Marktwirtschaft“ werde der „neoliberale Kapitalismus“ bemäntelt und legitimiert. Die Denkschrift zeige eine Entsolidarisierung gegenüber den Verliererinnen und Verlierern des Systems und sei theologisch fragwürdig – eine „Verdrängung und Verkehrung der biblischen, reformatorischen und heutigen ökumenischen Botschaft“. Sie zeige, dass die EKD zunehmend von Beweggründen geleitet werde, die „dem Evangelium fremd“ sind. Die Kritiker rufen evangelische Gemeindeglieder und Synoden auf, der Schrift zu widersprechen; sie sollten, so schreiben sie in der Zeitschrift Publik Forum, die EKD auffordern, „diese Denkschrift zu widerrufen“.  (bl)

Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, 130 S. im Internet: www.ekd.de/download/ekd_unternehmer.pdf

Ulrich Duchrow und Franz Segbers (Hg.) Frieden mit dem Kapital? Wider die Anpassung der evangelischen Kirche an die Macht der Wirtschaft Publik Forum Verlag, Oberursel 2008, 192 S.

erschienen in Ausgabe 12 / 2008: Wirkung der Entwicklungshilfe

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