Von Nils Brock
Ihr Ruf ist gefürchtet. Ciudad Juárez, im Norden Mexikos an der Grenze zu den Vereinigten Staaten, gilt als „gefährlichste Stadt“ des Landes. Es sei „ein mieser Ort zum Leben geworden“, sagt die Schriftstellerin Arminé Arjona. Vor vier Jahren hat sie begonnen, neben Gedichten auch kleine Chroniken über die täglich sicht- und hörbaren Zeichen des Drogenhandels in ihrer Heimatstadt zu schreiben – Momentaufnahmen des Ende der 1990er Jahre entbrannten Verteilungskriegs der mexikanischen Kartelle um territoriale Kontrolle und politischen Einfluss. Doch es fällt ihr immer schwerer, den Alltag in Worte zu fassen. „Mehr als tausend Menschen sind in Ciudad Juárez in diesem Jahr eines gewaltsamen Todes gestorben“, berichtet Arminé Arjona. Es sei längst nicht mehr möglich, jeden Fall zu dokumentieren.
Festzuhalten ist aber, dass die Gewalt zwischen Polizei, Militär und Drogenhändlern seit Beginn des Jahres eskaliert. Landesweit kamen bei Hinrichtungen, Schießereien, Entführungen und Anschlägen über 3000 Frauen und Männer ums Leben. Präsident Felipe Calderón von der ultrakonservativen regierenden „Partei der Nationalen Aktion“ (PAN) hatte noch im Januar ein rasches Ende des 2006 ausgerufenen „Krieges gegen die Drogen“ versprochen. Doch nun appelliert er immer häufiger an die Geduld und Geschlossenheit der Bevölkerung. Denn zunehmend geraten auch Zivilisten zwischen die meist unklaren Fronten, etwa bei der Explosion von drei Handgranaten in der Provinzhauptstadt Morelia am Unabhängigkeitstag, dem 15. September. Acht Menschen starben, fast 140 wurden verletzt. Medien brachten den Anschlag mit Drogen-Konflikten in Verbindung.
Zum Verständnis des Konfliktes hilft ein Blick in die Geschichte. Der Drogenhandel in Mexiko sei schon immer eng mit dem Staat verknüpft gewesen, sagt der Soziologe Luis Astorga von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM). Bereits in den 1920er Jahren sei der Schmuggel mit mexikanischem Opium und später auch Marihuana in Richtung USA stets unter „staatlicher Aufsicht“ erfolgt. Gerade das Verbot der nichtmedizinischen Nutzung von Opium (1914) und Marihuana (1937) im nördlichen Nach -barland machte den marktnahen Anbau und den illegalen Handel für mexikanische Hersteller lukrativ. „Der Staat hatte bei diesen Geschäften die Rolle eines schützenden Vormunds inne, der regulierend eingriff, die Ausmaße des Anbaus kontrollierte und natürlich auch finanziell vom Geschäft mit den Drogen profitierte“, erklärt Astorga.
Konflikte gab es auch damals, nicht zuletzt weil die steigende Nachfrage auf den US-Märkten lokale Drogengrößen wie Pablo Acosta Villareal, den „Fuchs von Ojinaga” zunehmend einflussreicher machte. Im Bundesstaat Chihuahua finanzierte der Geschäftsmann die Wahlkämpfe etlicher Bürgermeister und Gouverneure. „Doch innerhalb des halbautoritären Regimes behielt der Staat immer das letzte Wort“, sagt Astorga und fügt hinzu: „Die Staatsraison wurde, falls nötig, auch gewaltsam und außerhalb des gesetzlich Erlaubten durchgesetzt.“ 32 Jahre lang erledigte vor allem die Behörde für Nationale Sicherheit (DFS) solche schmutzigen Jobs. Zur Bekämpfung „innerer Feinde“ wie Guerillagruppen und radikaler sozialer Bewegungen gegründet, mischte die DFS in den letzten Jahren ihrer Existenz selbst immer aktiver im Drogenhandel mit. Erst auf Druck der US-amerikanischen Drogenbehörde (DEA) löste die mexikanische Regierung ihren „starken Arm“ 1985 auf.
Mexiko ist zum wichtigsten Transitland für Kokain aus Kolumbien aufgestiegen
Die bis dahin allmächtige „Partei der Demokratischen Revolution“ (PRI), die Mexiko sieben Jahrzehnte regierte, verlor zunächst die Macht in Mexiko-Stadt und im Jahr 2000 auch die Präsidentschaftswahlen. Dieser weltweit bejubelten „Demokratisierung“ Mexikos applaudierten auch die „narcos“, denn damit war ihr politischer Spielraum gewachsen. Nach dem Wegfall zentral organisierter staatlicher Kontrolle konnten sie alternative Handelswege bis nach Südamerika organisieren und mit der Erschließung Mexikos als Absatzmarkt beginnen. Ein Blick in die Statistiken des mexikanischen Gesundheitsamtes zeigt, wie erfolgreich sie damit sind: Die Zahl der als „süchtig“ Registrierten hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. Im vergangenen Jahr konnte die nationale Drogenökonomie zudem Schätzungen zufolge rund 20 Milliarden US-Dollar Gewinn verbuchen. Er verteilt sich auf mindestens sechs verschiedene Kartelle. Aus den einst patriarchalischen Familienbetrieben sind dabei längst international verflochtene Holdings mit flachen Hierarchien und schlagkräftigen, gut bewaffneten Einsatztruppen geworden.
Längst ist Mexiko zum wichtigsten Transitland für Kokain aus Kolumbien aufgestiegen. Das weiße Pulver konnte seit den 1980er Jahren nicht mehr so leicht nach Miami eingeflogen werden, da die USA ihre Kontrollen verstärkt hatten. Die Landgrenze ist schwieriger zu überwachen; deshalb nehmen heute mehr als 90 Prozent des in den USA konsumierten Kokains diesen Weg: durch Tunnel, auf kleinen Trampelpfaden oder versteckt in den LKWs und Autos ahnungsloser Grenzgänger der Nachbarstädte El Paso und Ciudad Juárez. Ein günstiger Gebrauchtwagenkauf endete auch für die Autorin Arminé Arjona im vergangenen Jahr mit einer fast dreimonatigen Untersuchungshaft in El Paso. „An der Grenze hatten Drogenhunde in den Polstern meines Wagens eingenähtes Kokain entdeckt. Doch ich konnte glaubhaft meine Unschuld beteuern“, berichtet sie.
Eine wichtige Rolle im Dreieck von Drogen, Geld und Macht spielen die mexikanischen Ordnungshüter. Sie sind meist unterbezahlt, schlecht ausgebildet und anfällig für Korruption. „In Ciudad Juárez unterhält die Polizei seit jeher gute Kontakte zu den Drogenhändlern“, bestätigt Arminé Arjona. So habe bis vor kurzem eine lokale Polizeieinheit unter dem Namen „La Línea“ als Geldeintreiber und Auftragsmörder für ein Drogenkartell gearbeitet. Eine Polizeireform fordern denn auch Experten und Regierungsberater, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Die Diskussion um Reformen, Umstrukturierungen und internen Säuberungen ist fast so alt wie die Polizei selbst“, stellt hingegen der ehemalige Bundespolizist Jorge Carreras (Name von der Redaktion geändert) nüchtern fest. Die in den 1980er Jahren gegründete Bundespolizei PFP sei nur auf dem Papier ein Vorzeigeprojekt. „Noch immer gibt es dort nicht mal eine vernünftige Basisausbildung.“
Die geplante Zusammenlegung von PFP und der nationalen Ermittlungsbehörde (AFI) für mehr Schlagkraft gegen das organisierte Verbrechen sieht Carreras zwiespältig. Grundsätzlich befürwortet er eine Einheitspolizei, die mehr ermittelt und Daten auswertet, statt nur bewaffnet gegen die Drogenkartelle anzutreten. Andererseits werde es innerhalb der neuen Behörde mit Sicherheit zu einem erbitterten Machtkampf kommen, prognostiziert er. „Wenn es nicht gelingt, Ordnung hineinzubringen, hat auch diese Reform nicht viel Zukunft.“
Alfredo Méndez, Reporter bei der mexikanischen Tageszeitung „La Jornada“, teilt diese Skepsis. Die Polizei sei nur der sichtbarste Teil des Problems. „Die meisten lokalen politischen Institutionen haben sich verkauft und nun wird die Rechnung gestellt“, meint er. „Die Kartelle, die den Wahlkampf heutiger Bürgermeister und Gouverneure finanziert haben, fordern von den Politikern nun Aktionen gegen andere Kartelle, mit denen sie um Kunden und Kontakte konkurrieren.“ Solche Verwicklungen sind allerdings schwer nachzuweisen und zu viele Fragen können gefährlich werden. Auch Méndez ist bei seiner Arbeit bereits mehrfach bedroht worden, im vergangen Jahr wurde bei einem Einbruch sein Computer gestohlen.
In Ciudad Juárez wird Feuer fast ausschließlich mit Feuer bekämpft
Der Staat setzt unterdessen auf „Null Toleranz“ gegenüber Drogenhändlern, Entführern und Auftragskillern: Sicherheitsgewahrsam oder Todesstrafe sind die Schlagwörter der Stunde. Mutmaßliche Straftäter werden oft übel zugerichtet bei den Pressekonferenzen der Staatsanwaltschaft vorgeführt. Dass hier Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ist nicht nur offensichtlich, sondern erwünscht. „Die Regierung inszeniert ein hartes Durchgreifen. Die Gefängnisse sind voll, aber nicht notwendigerweise mit Schuldigen“, sagt der frühere Inspektor Carreras. Die Mexikaner verlangten immer seltener nach Gerechtigkeit. „Sie wollen Köpfe rollen sehen.“
In Ciudad Juárez wird ebenfalls Feuer fast ausschließlich mit Feuer bekämpft. „Je mehr die Stadt zum Schauplatz des Drogenkriegs wurde, desto höher wurde die Zahl der Banküberfälle, Entführungen und Raubmorde“, erinnert sich Arminé Arjona. Geschäftsinhaber mit guten Kontakten zur Stadtverwaltung hätten kostenlos Polizisten in Zivil zur Verfügung gestellt bekommen. „Bei Überfällen haben die Ordnungshüter viele der Angreifer erschossen, natürlich immer in Notwehr. Ermittlungen gab es keine.“
Nur unzureichend erforscht sind auch die Kanäle, durch die jährlich rund zehn Milliarden US-Dollar aus dem Drogenhandel in die mexikanische Wirtschaft fließen. „Die Geldwäsche macht die Kartelle stark“, sagt der Journalist Méndez. Obwohl das Delikt im Strafgesetzbuch klar definiert sei, werde es nicht verfolgt. Niemand fühle sich zuständig. Laut Méndez ist das Drogengeld überall im Land gut angelegt, von Krankenhäusern bis zu Hotelketten. Das Geschäft mit den Rauschmitteln werde immer noch als isoliertes Phänomen in Nordmexiko, den traditionellen Anbaugebieten, gesehen. Dabei habe sich längst Mexiko-Stadt zum Zentrum der Drogenbosse entwickelt. „Hier werden die Deals in schicken Restaurants ausgehandelt“, sagt Méndez.
Lohnende Geschäfte versprechen auch Investitionen in den politischen Wettbewerb. Im kommenden Jahr stehen Wahlen in vier Bundesstaaten an, zudem wird ein Teil des Parlaments neu gewählt. Die Regierung plant Kürzungen bei der internen Rechnungsprüfung und den Anti-Korruptionseinheiten, die staatliche Stellen kontrollieren. Der Etat des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit hingegen wird verdoppelt. Ein ganz falsches Zeichen, findet die Kongressabgeordnete Elsa Konde von der kleinen Oppositionspartei „Sozialdemokratische Alternative“ (ASD). Das steigende Angebot an Drogen in Mexiko verlange nach gesellschaftlich komplexeren Antworten als polizeilich-militärischen Operationen.
Statt längerer Gefängnisstrafen für Menschen, die mit kleinen Mengen Drogen erwischt werden, solle in die Bildung investiert werden, um mittelfristig den Konsum zu regulieren. Darüber hinaus sollten Rauschmittel schrittweise legalisiert werden. „Eigenverantwortung, Aufklärung und eine gesellschaftliche Debatte sind doch viel wirksamer als Verbote“, betont Konde. Mit diesen Vorschlägen haben die Sozialdemokraten bislang kaum Gehör bei den großen Parteien gefunden.
Insgesamt sollen mehr als 32.000 Soldaten im „Krieg gegen die Drogen“ im Einsatz sein
Ausgerechnet die umstrittenste Idee will die Regierung jedoch aufgreifen: Der Besitz kleiner Mengen an Drogen soll künftig nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Es gehe jedoch nicht darum, Drogenbesitz und Drogenkonsum zu entkriminalisieren, stellt Präsident Calderón klar. Vielmehr sollten spezifische Kriterien für die Straftat „Drogenhandel“ definiert werden. Damit signalisiert die Regierung kein Umdenken im Kampf gegen Angebot und Nachfrage, sondern lediglich eine moralisierende Trennung von kriminellen Dealern und süchtigen Konsumenten, von denen letztere nach Auffassung des Präsidenten unterschiedslos „therapiebedürftig“ sind.
Kein Durchblick bei der Geldwäsche, interne Querelen bei der Polizeireform und immer mächtigere Drogenunternehmen: Kurzfristig hat der mexikanische Staat dafür nur eine militärische Lösung parat. Auch internationale Hilfe, etwa die mehrere hundert Millionen US-Dollar umfassende Unterstützung der USA im Rahmen der „Initiative Merida“, wird fast ausschließlich in Waffen, moderne Kommunikationstechnik und Kampfausbildungen fließen. Bereits seit Monaten liegt die öffentliche Sicherheit in Städten wie Tijuana, Ciudad Juárez und seit neuestem auch Morelia in den Händen von Soldaten. An vielen Hauptstraßen des Landes hat die Armee Straßensperren errichtet und kontrolliert den Verkehr. Insgesamt sollen inzwischen mehr als 32.000 Soldaten im „Krieg gegen die Drogen“ im Einsatz sein.
Beobachter wie der Soziologe Astorgas kritisieren das mit zwei Argumenten. Zum einen nehmen Menschenrechtsverletzungen bei den robusten Einsätzen zu. Zum anderen drohe bei einem dauerhaften Militäreinsatz auch diese Institution Teil der „Narkokratie“ zu werden. Zahlreiche ehemalige Soldaten haben bereits ihr Auskommen in den Reihen der Kartelle gefunden. Ein Monatseinkommen von weniger als 300 Euro zu verzehnfachen ist eben sehr verlockend.
In einem Pilotprojekt werden in Ciudad Juárez nun erstmals 1000 Soldaten umgeschult, um nach und nach die lokalen Polizeieinheiten zu ersetzen. Schon jetzt sind dort 4000 Bundespolizisten und Militärs befristet stationiert. Doch sicherer ist die Transitroute und der wichtige Umschlagplatz an der Nordgrenze nicht geworden. „Ich habe zahlreiche Beschwerden von Leuten gehört, bei denen Soldaten die Wohnungen gestürmt haben, und zwar ohne Durchsuchungsbefehl. Sie haben Einrichtungsgegenstände zerstört, die Leute beleidigt, geschlagen und beklaut“, erzählt Arminé Arjona. Und von den militärischen Umschülern verspricht sich die Chronistin im besten Fall eines: „Vielleicht können die Soldaten helfen, dass eines der Kartelle wieder die Oberhand gewinnt, so wie früher.“ Damit wäre dann zumindest der Kampf um Ciudad Juárez zu Ende.
Nils Brock ist freier Journalist in Mexiko.