Nur einen Tag hat Aserbaidschan gebraucht, um in Bergkarabach klare Verhältnisse zu schaffen. Am 19. September nahmen aserbaidschanische Soldaten Stepanakert ein, die Hauptstadt des Gebiets, und zeigten der lokalen Regierung, dass sie mit ihren geschätzt 6000 Soldaten keine Chance hat. Die Vertreter der armenischen Enklave kapitulierten umgehend in Form eines Waffenstillstands mit anschließenden Übernahmeverhandlungen.
Schaut man allein auf das Völkerrecht und lässt außer Acht, dass Aserbaidschan in den vergangenen neun Monaten die Menschen in Bergkarabach aushungern wollte, dann hat das Regime in Aserbaidschans Hauptstadt Baku eigentlich nur das getan, was ihm zusteht: Es hat die Kontrolle über ein Gebiet übernommen, das Josef Stalin 1921 als autonomen Verwaltungsbezirk (Oblast) Aserbaidschan zugeschlagen hatte und bis heute völkerrechtlich Teil von Aserbaidschan ist. Nach Ansicht des Regimes in Baku sollen die 120.000 Einwohnerinnen und Einwohner jetzt einfach die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft beantragen.
Doch das werden die Karabach-Armenier um keinen Preis tun. Seit Jahrzehnten wehren sie sich dagegen, unter der Kontrolle von Aserbaidschan zu leben. Das hat vor allem ethnisch-religiöse Gründe. Die Menschen in Bergkarabach sind armenische Christen, und in Aserbaidschan leben muslimische Azeris. Die einen sprechen Armenisch, die Älteren können auch Aserbaidschanisch. Die anderen sprechen Aserbaidschanisch, können aber kein Armenisch. Das Misstrauen zwischen beiden Volksgruppen ist groß. Gegen Ende der Sowjetzeit waren bei mehreren Pogromen in Aserbaidschan Hunderte Armenier getötet, verletzt und vertrieben worden, nachdem die Armenier in Bergkarabach sich 1988 für den Anschluss an Armenien entschieden hatten. Umgekehrt mussten Zehntausende Aserbaidschaner fliehen, als Armenien 1994 den ersten Krieg um Bergkarabach 1994 für sich entschied.
Ist das armenische Erbe in Bergkarabach für immer verloren?
Heute bleibt den Karabach-Armeniern angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse nur noch eine Option: Sie müssen ihre Heimat aufgeben und gehen. Das heißt, dass sie nicht nur ihre Häuser und Felder aufgeben, sondern auch ihre Toten zurücklassen müssen, ihre Kirchen und Klöster und alles, was ihre Kultur ausmacht.
Es stehe zu befürchten, dass das armenische Erbe in Bergkarabach für immer verloren ist, sagt Andreas Müller, Historiker an der theologischen Fakultät in Kiel. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Universitäten Erewan und Göttingen sowie dem konfessionskundlichen Institut in Bensheim hat er nach dem zweiten Bergkarabach-Krieg 2020 ein Projekt gestartet, das die Gefahren der Zerstörung armenischen Kulturguts im Kaukasus in den Blick nimmt. „Wir beobachten mit Sorge, dass religiöse und kulturelle Stätten gezielt zerstört werden“, sagt Müller. 2020 hätten in den sozialen Medien Fotos und Videos die Runde gemacht, wie aserbaidschanische Soldaten armenische Kirchen und Klöster entweihten.
Das Beispiel der Autonomen Republik Nachitschewan zeige, „wie Aserbaidschan die Kulturgeschichte einer ganzen Region umschreibt“, sagt Müller. Die zu Aserbaidschan zugehörige Exklave, die an Armenien, den Iran und die Türkei grenzt, ist wie Bergkarabach historisch armenisches Siedlungsgebiet. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die armenische Bevölkerung schrittweise vertrieben. Heute leben in Nachitschewan nur noch Aserbaidschaner. Von den alten armenischen Kirchen und Klöstern seien viele zerstört worden, sagt Müller und nennt als ein gut belegtes Beispiel den historischen Friedhof von Julfa, wo einst Tausende von Khatschkare standen. Diese Jahrhunderte alten, fein behauenen Kreuzsteine waren UNESCO-Weltkulturerbe. Anfang der 2000er Jahre wurden sie geschreddert und für den Straßenbau verwendet. Was früher ein armenischer Friedhof war, ist heute eine aserbaidschanische Militärbasis.
Ein Fall von Geschichtsklitterung
Um die Kulturgeschichte einer Region umzuschreiben, gibt es aber noch subtilere Methoden als das Schreddern von Gedenksteinen. Müller nennt dafür die Kathedrale von Shushi in Bergkarabach. 2020 wurde sie von aserbaidschanischen Truppen gezielt beschossen. Jetzt lässt Baku sie wieder aufbauen, wohl als Signal an alle Skeptiker, die Aserbaidschan nicht zutrauen, dass es die Religionsfreiheit einer christlichen Minderheit schützen wird. „Die Kathedrale wird allen Informationen nach nicht mehr im original armenischen Stil wiederaufgebaut, sondern als russisch-orthodoxe Kirche im byzantinischen Stil“, sagt Müller. Dies sei ein Beispiel dafür, wie die historischen Spuren der armenischen Kultur verwischt werden sollen.
Um dies zu rechtfertigen, bemühe das Regime von Ilham Alijew die höchst umstrittene Theorie von der Erstbesiedlung der Region durch kaukasische Albaner, sagt Müller. Dieser Volksstamm, der mit dem heutigen Albanien nichts zu tun hat, lebte bis im vierten Jahrhundert in dieser Gegend und integrierte sich mit der Zeit friedlich ins armenische Volk. Man wisse nur sehr wenig über sie, ein Turkvolk seien sie aber nicht gewesen. „Genau auf diese kaukasischen Albaner beruft sich jetzt Alijew. Sie sollen die Ur-Aserbaidschaner sein, die schon vor den Armeniern da waren, die wiederum ihre Kultur nur übergestülpt hätten“, sagt Müller. Für Historiker sei dies ein klarer Fall von Geschichtsklitterung.
Gleichzeitig warnt Müller davor, von einem religiösen Konflikt zu sprechen, auch wenn es um Kirchen und Klöster gehe. „Wenn kulturelles Erbe bewusst zerstört wird, hat das nicht primär mit Religion zu tun. Es geht vielmehr darum, die kulturelle Identität eines Volkes zu zerstören“, sagt Müller und gibt zu bedenken, dass die Religiosität in der Bevölkerung sowohl auf aserbaidschanischer als auch auf armenischer Seite nach sieben Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft nicht mehr sehr stark ausgeprägt sei.
Religiöse Rhetorik nimmt zu
Trotzdem lässt sich in Armenien und der armenischen Diaspora eine verstärkte religiöse Rhetorik feststellen. In Stellungnahmen kirchlicher Vertreter und in den sozialen Medien ist viel vom „nächsten Genozid an den letzten Christen in der Region“ die Rede oder von „der ersten christlichen Nation, die jetzt ausgelöscht werden soll“. Vor dem Hintergrund des Genozids von 1915, als im Osmanischen Reich 1,5 Millionen Armenierinnen und Armenier von den Jungtürken in den Tod getrieben wurden, ist das zwar nachvollziehbar.
Caroline Kruckow, die beim evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt Referentin für Frieden und Entwicklung ist und sich seit vielen Jahren mit der Kaukasusregion befasst, warnt aber davor, diesen Narrativ zu übernehmen. „Es wäre fatal, von einer einheitlichen islamischen Front zu sprechen, die sich jetzt gegen die armenischen Christen wendet“, sagt sie. Den Bergkarabach-Konflikt mit religiösen Motiven zu erklären, greife zu kurz und erschwere eine Bearbeitung der vielschichtigen Konfliktursachen und deren Überwindung. „Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir hierzulande nicht auch diese Rhetorik übernehmen, sondern auf die Achtung der Menschenrechte in der Region pochen“, sagt Kruckow. Und dazu gehöre neben den humanitären Aspekten auch, sich für den Erhalt von armenischem Kulturgut und gegen eine Vertreibung der Armenierinnen und Armenier aus Bergkarabach einzusetzen.
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