"Man muss voneinander lernen"

Gesundheit
Die Weltgesundheitsorganisation WHO öffnet sich der traditionellen Medizin. Zuletzt hat sie sogar einen Gipfel dazu veranstaltet. Was das für die Gesundheitsversorgung im globalen Süden bedeutet und warum das sinnvoll ist, erklärt die Direktorin des Difäm, Gisela Schneider.

Gisela Schneider ist Ärztin und leitet seit 2007 das Deutsche Institut für Ärztliche Mission Difäm.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im August eine hochrangige Konferenz zur traditionellen Medizin veranstaltet. Bereits im vergangenen Jahr hat sie in Indien ein „Globales Zentrum für traditionelle Medizin“ eröffnet. Wie bewerten Sie das? 
Ich glaube, bei der WHO hat man inzwischen erkannt, dass Medizin mehr ist als reine Schulmedizin. Es geht darum, den Menschen als Ganzes zu sehen. Doch seit ihrer Gründung vor 75 Jahren hat sich die WHO immer stärker auf Schulmedizin fokussiert. Ich denke, die vielen Gesundheitskrisen der vergangenen Jahre haben zu einem Umdenken geführt. Zum Beispiel hat die WHO während der Ebola-Epidemie 2014 in Westafrika erst einen strikt schulmedizinischen Ansatz gewählt. Dann hat sie gemerkt, dass sie scheitern wird, wenn sie die Menschen nicht mit ins Boot holt. Daraufhin hat sie stärker gemeinschaftsorientiert gearbeitet – im sogenannten „community based approach“. Die WHO weiß inzwischen: Man muss die Menschen und ihre Werte einbeziehen. Sie hat gelernt, wie wichtig die Autorität und der Respekt gegenüber traditionellen Heilern ist.

Ein Ergebnis der Konferenz ist, dass die WHO mehr zur Wirksamkeit der traditionellen Medizin forschen will.
Ja, und das ist auch vernünftig. Man muss mit Studien belegen, ob die traditionellen Medikamente und Behandlungen wirksam und sicher sind.

Welchen Stellenwert haben traditionelle Medizin und Therapien im globalen Süden? 
Der Heiler ist oft näher als das nächste Gesundheitszentrum und nicht so teuer. Man kann bei ihm auch mit einem Hühnchen oder Naturalien bezahlen, im Krankenhaus braucht man Geld und das haben viele nicht. Es gibt zudem gute Beispiele, dass der traditionelle Heiler ins staatliche oder kirchliche Gesundheitssystem integriert ist.  Das ist bei den traditionellen Hebammen in einigen Ländern gelungen, und so kann es auch bei psychischen oder chronischen Krankheiten möglich sein. Nehmen Sie das Beispiel Diabetes: Wenn wir traditionelle Heiler einbeziehen und ihnen das notwendige Wissen vermitteln, was Diabetes ist und welche Behandlungen es dafür gibt, dann kann er die Patienten viel besser erreichen und ihnen auch mal sagen, dass sie besser in die Klinik gehen oder ihre Medikamente nehmen sollen. Wenn man die Rolle der traditionellen Heiler anerkennt, kann die Therapie insgesamt gestärkt werden.

Aber nicht alle machen ihre Sache gut, oder?
Ja, ich habe ich auch gesehen, welch großen Schaden sie anrichten können. Da gibt es zum Beispiel die traditionellen Orthopäden unter den Heilern, die Knochenbrüche behandeln. Sie wissen, wie man einen Bruch einrichtet und eine Schiene mit lokalen Materialien herstellt, aber sie haben meist kein Verständnis für die Durchblutung. Ich habe Kinder gesehen, die ihren Arm verloren haben, weil die Schiene zu fest und die Durchblutung abgeschnürt war. Aber die meisten machen gute Arbeit, deswegen sollten sie gehört und können dann integriert werden.

Während der Corona-Pandemie haben viele Menschen in Afrika, zum Beispiel in Tansania, auf traditionelle Medizin gesetzt und ein Gebräu aus Chili, Zitrone, Ingwer und Knoblauch getrunken oder Dampfbäder gemacht – und die WHO hat das zum Teil auch unterstützt. War das Pragmatismus, weil sie wusste, dass die Impfstoffe nicht rechtzeitig nach Afrika kommen, oder war sie davon überzeugt? 
Die Situation in Tansania war kompliziert. Dort haben viele Corona geleugnet, sogar der Präsident. Als die neue Regierung an die Macht kam, hat sich die Situation geändert und es wurde sogar möglich, gegen Corona zu impfen. In Afrika hat man früh die Pflanze Artemisia anua, bei uns auch als Wermuth bekannt, eingesetzt. Das konnte Corona nicht heilen, aber ist ein Mittel, dass das Immunsystem stärkt. Dadurch ist also kein Schaden entstanden. Aber an diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig das Verständnis für die unterschiedlichen Ansätze der Schul- und der traditionellen Medizin ist.

Das heißt, die Schulmedizin kann von traditioneller Medizin lernen? 
Ja, von den guten Erfahrungen, die damit gemacht werden. Nehmen Sie Artemisinin, das Malariamedikament, das seit Jahren verwendet wird. Es wurde ursprünglich in China bekannt, als Mittel gegen Malaria. Die Pharmaindustrie hat die Studien gemacht und das Medikament als Tablette entwickelt, das heute als Kombinationspräparat Mittel der Wahl ist. Die Schulmedizin hat hier direkt von der alternativen Medizin gelernt, sie weiterentwickelt und eingesetzt. Die Artemisininpflanze wird heute in vielen Ländern auch als Tee verwendet. Da es schwierig ist, die richtige Dosierung herzustellen, rät die WHO allerdings davon ab, auch um mögliche Resistenzen zu verhindern. 

Ist es überheblich vom Westen, vor allem der Schulmedizin zu vertrauen? 
Ich glaube, es tut der Schulmedizin gut, immer wieder kritisch selbst zu reflektieren, was sie tut und was sie kann. Sie kann sehr viel: Das haben wir bei Corona gesehen. In zehn Monaten einen Impfstoff herzustellen, ist einfach phänomenal. Aber man muss eben auch auf die natürlichen Heilmittel schauen und prüfen, ob und wie sie wirken. Es wird sich bewähren, dass die WHO da jetzt Geld investiert. Ich denke, es ist ein sinnvoller Weg, die Schulmedizin mit der traditionellen Medizin zu ergänzen und den Mensch ins Zentrum zu rücken. Es muss immer die Frage beantwortet werden: Was muss getan werden, um dem Patienten am besten zu helfen? Es hilft nicht, wenn ein Medikament tausende Kilometer entfernt verfügbar ist, ich aber keinen Zugang dazu habe – was in vielen Ländern des globalen Südens der Fall ist. Aber es gibt Dinge, die man mit traditioneller Medizin tun kann, damit es dem Patienten besser geht. Wichtig ist, gemeinsam unterwegs sein, voneinander lernen und Respekt voreinander zu haben.

Das Gespräch führte Melanie Kräuter.  

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