„Entwicklungspolitisch herrscht hier gerade Flaute, aber ich höre mich mal um.“ Diesen Satz bekam ich von Ralf Leonhard regelmäßig zur Antwort, wenn ich ihn als zuständiger Redakteur mal wieder nach neuen Themen für unsere Berichterstattung aus Österreich gefragt habe. Meistens hat er sich dann noch am selben Tag mit Vorschlägen gemeldet und in der Regel hatte ich keine 24 Stunden später seinen Text in meinem E-Mail-Postfach – Monat für Monat, genau 15 Jahre lang.
Ralfs erster Beitrag für „welt-sichten“ erschien im April 2008, es ging um die Gründung eines neuen Dachverbands der österreichischen Entwicklungsorganisationen. Seinen letzten Text haben wir vor acht Tagen, am 16. Mai, online gestellt, es ist ein Porträt des neuen Geschäftsführers eben dieses Dachverbands. Ralf hatte für uns Österreichs Entwicklungspolitik im Blick, aber wenn da nachrichtenmäßig eben Flaute herrschte, hat er das Spektrum gerne erweitert, etwa auf die von ihm kritisch begleitete österreichische Flüchtlingspolitik, auf die Arbeitsbedingungen der entwicklungspolitischen Zivilgesellschaft in Österreich und zuletzt auch auf die Debatte um Österreichs Haltung zum Angriff Russlands auf die Ukraine.
Im August 2012 berichtete Ralf unter der Überschrift „Schmerzhafter Rückzug aus Nicaragua“ über das Ende der Entwicklungszusammenarbeit Österreichs mit dem mittelamerikanischen Land. Das hat ihn auch persönlich bewegt, denn mit Nicaragua war Ralf seit den frühen 1980er Jahren eng verbunden. Von 1982 bis 1996 lebte er dort und berichtete als Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, vor allem für die „taz“. In Nicaragua lernte er seine Frau Indiana kennen, hier wurde seine erste Tochter Alfa geboren. Ralf war der sandinistischen Revolution, in der 1979 die Somoza-Diktator gestürzt wurde, in kritischer Solidarität zugetan. Den zunehmend autoritären, heute diktatorischen Führungsstil der Sandinisten seit 2006 hingegen hat er in seiner journalistischen Arbeit ohne Wenn und Aber verurteilt. Im März dieses Jahres hat Ralf für „welt-sichten“ über die Kirche als letzter organisierter Opposition in Nicaragua berichtet.
Nach seiner Rückkehr 1996 nach Wien hat Ralf nicht nur weiter über Lateinamerika geschrieben, sondern zunehmend auch aus Osteuropa, vor allem Ungarn, sowie aus Sri Lanka und von den Philippinen berichtet. Rund 150 Texte dürfte ich in den vergangenen Jahren von ihm bearbeitet haben. Hier war er professionell und ebenso uneitel, wie er es als Mensch war: Meistens hat er unsere Änderungen kommentarlos akzeptiert und seine Texte innerhalb weniger Stunden autorisiert.
Ralf Leonhard, Jahrgang 1955, ist am 21. Mai infolge eines Unfalls völlig unerwartet gestorben. Er wird uns sehr fehlen.
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