Die Kambodschaner tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit
Von Natalia Matter
Gewalt, Armut und ungeklärte Besitzverhältnisse: Kambodscha leidet noch immer unter dem Erbe des Terrorregimes von Pol Pot. Die Versöhnung zwischen Tätern und Opfern ist eine Aufgabe für Generationen. Im Herbst beginnt die Hauptverhandlung eines internationalen Tribunals, vor dem sich die führenden Vertreter des Regimes verantworten müssen. Die Meinungen über seinen Nutzen sind geteilt.
Kambodscha ist ein geschundenes Land. Die Geschäftigkeit in den Straßen der Hauptstadt Phnom Penh lässt das zwar schnell vergessen. In der flirrenden Hitze wuselt der Verkehr: Autos, Motorradrikschas, Mopeds und Fahrräder suchen sich ihren Weg. Der Handel blüht, neue Gebäude wachsen aus dem Boden. Doch viele Menschen hier haben Vertreibung, Hunger und brutale Gewalt erlitten. Während des Terrorregimes der Roten Khmer unter Pol Pot (1975 bis 1979) starben etwa zwei Millionen Kambodschaner – rund ein Drittel der Bevölkerung. Fast jeder der Überlebenden hat Angehörige verloren. Jahre davor und danach war das Land Spielball der Machtkämpfe zwischen Ost und West. Bürgerkriegsähnliche Zustände ließen Kambodscha annähernd zwei Jahrzehnte, nachdem vietnamesische Truppen die Regierung der Roten Khmer vertrieben hatten, nicht zur Ruhe kommen. Noch heute sind viele Kambodschaner vor allem damit beschäftigt zu überleben, ein Drittel der Bevölkerung lebt in extremer Armut, die meisten davon auf dem Land.
Über die Schreckensherrschaft der Roten Khmer, die einen kommunistischen Bauernstaat aus dem Land machen wollten, herrscht nach wie vor hauptsächlich Schweigen. „Die meisten meiner Freunde sagen, dass ihre Eltern und Großeltern nicht über die Pol-Pot-Zeit sprechen“, erzählt Sin Putheary. „Sie haben viel gelitten, deshalb wollen sie es vergessen.” Weil das auch in ihrer Familie so war, hat die 25-jährige Medienstudentin für den Abschlussfilm ihres Fernsehkurses zum Thema Rote Khmer ihre Großmutter zu deren Vergangenheit interviewt. Die Anregung, diese Zeit als Thema zu wählen, hatte die deutsche Dozentin Isabel Rodde gegeben, die seit 2006 am Fachbereich unterrichtet.
Der Auslöser aber war das internationale Tribunal, vor dem sich die wichtigsten noch lebenden Vertreter der Roten Khmer verantworten müssen. Der Strafgerichtshof in Phnom Penh, der aus kambodschanischen und internationalen Juristen besteht und durch eine Vereinbarung zwischen Kambodscha und den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde, hat bislang vier Männer und eine Frau für Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Pol Pot ist nicht dabei – er ist vor zehn Jahren gestorben. Der Beginn der Hauptverhandlungen wird für diesen Herbst erwartet. Dann wird zur Sprache kommen, wie die Menschen aus den Städten vertrieben, zu Feldarbeit gezwungen, gefoltert und ermordet wurden. „Die Vergangenheit wird mit dem Tribunal zum Thema“, sagt die deutsche Journalistin Susanne Alck, die bei einem lokalen Radiosender arbeitet. Doch die Meinungen sind geteilt, ob der Prozess zur Versöhnung beitragen kann. Denn „die Werte der Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen wurden zerstört, die Leute wurden traumatisiert“, erklärt Karl Schönberg, der seit 1981 für das Programm des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) in Kambodscha zuständig ist. „Eine ganze Generation ist ausgelöscht worden, es gab einen Genozid. Das wirkt auch heute noch nach.“
Eine Folge der unaufgearbeiteten Geschichte ist die weitverbreitete Gewalt. Übergriffe auf Frauen und Kinder sind an der Tagesordnung, auch wenn sie per Gesetz verboten sind. In 60 Prozent aller Familien gibt es häusliche Gewalt. „Es gibt kein Unrechtsbewusstsein”, bedauert Mom Neang von der kambodschanischen Kinderschutzorganisation CCBO. Laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) sind mehr als 30 Prozent der kambodschanischen Bevölkerung der Meinung, dass körperliche Gewalt angebracht ist, wenn eine Frau die Vorrechtsstellung ihres Mannes in Frage stellt. Selbst Schussverletzungen und Säureattacken bis hin zum Mord halten ein Drittel der Befragten für legitim. Eine weitere Folge ist der Umgang mit den Ressourcen des Landes: Da während der Roten-Khmer- Herrschaft persönliches Eigentum verboten war, zerstörten die Machthaber die Kataster. Nun vergibt die kambodschanische Regierung seit Jahren großzügige Land- und Waldkonzessionen vorwiegend an ausländische Unternehmen und entzieht damit der eigenen Bevölkerung die Existenzgrundlage. Dabei nehmen die Behörden kaum Rücksicht darauf, ob das Land von Bauern bestellt wird oder besiedelt ist. Es kann passieren, dass ohne Vorwarnung Bulldozer über die Äcker fahren und bewaffnete Männer die Dorfbewohner mit Gewalt daran hindern, ihre Ernte zu schützen. Die Menschen können sich nicht wehren, weil sie keine Eigentumstitel besitzen.
Auch wenn das Katasterwesen derzeit unter anderem mit Hilfe der GTZ wieder aufgebaut wird, ist es schwierig, einen Landtitel zu erhalten. “Zwar gibt es seit 2001 ein Gesetz, das Eigentumsrechte für diejenigen vorsieht, die das Land bewirtschaften”, erläutert Yeng Virak von der kambodschanischen Hilfsorganisation Star Kampuchea. Doch nur etwa ein Fünftel der Bestimmungen würden umgesetzt. „Die Regierung und die Gerichte sind korrupt”, so Virak. In der Rangliste von Transparency International belegt Kambodscha Platz 162 von 179. Wer mehr Geld hat, setzt sich durch. „Was uns als Erbe bleibt ist der Mangel an Moral“, resümiert sein Kollege Neuk Sarin.
Die Armut, in die die Bevölkerung auf diese Weise getrieben wird, verstärkt noch die häusliche Gewalt. Wenn Männer nicht mehr in der Lage sind, ihre traditionelle Rolle als Ernährer der Familie auszufüllen, machen sie ihrer Hilflosigkeit mit Gewalt Luft. Zu Gewaltkonflikten kommt es auch zwischen Dörfern, die um die knappen Ressourcen konkurrieren. An der Bucht von Kampong Som vor dem Golf von Thailand führten zwei Fischereiverbände regelrecht Krieg um die Fischgründe, weil sich dort infolge der Landkonflikte immer mehr Menschen angesiedelt haben, um vom Fischfang zu leben. Dabei wurden Menschen getötet und Häuser abgebrannt.
„Die ältere Generation hat jahrelang Rechtlosigkeit erlebt und sie verinnerlicht”, erklärt Susanne Alck. Konflikte eskalierten schnell. Entwicklungsarbeit in Kambodscha ist daher gleichzeitig immer auch Versöhnungsarbeit. Die Menschen müssten lernen, sich nicht zu bekämpfen, sondern miteinander zu reden, um ihre Konflikte friedlich zu lösen, sagt Karl Schönburg. „Man kann hier nicht arbeiten, ohne dass man die Geschichte mit im Blick hat“, betont er.
Zahlreiche Entwicklungsorganisationen haben deshalb die friedliche Konfliktlösung in ihre Arbeit integriert. Das gilt auch für die von den Quäkern gegründete AFSC, unter deren Vermittlung sich die Frauen der Fischergemeinden an der Bucht von Kampong Som verständigt und Gespräche aufgenommen haben. „Wir haben dann versucht, die Männer davon zu überzeugen, Konflikte zu vermeiden“, erzählt Su Eau aus der Frauengruppe von Sung Hav. „In diesem Fall haben sie sogar auf uns gehört.“
Zum Erbe der Roten-Khmer-Zeit zählt auch, dass sich die Kambodschaner nur selten gegen die Willkür und Korruption der Behörden wehren. Während deren Schreckensherrschaft galt Bildung als tödlicher Makel. Intellektuelle wurden entweder getötet oder vertrieben. Noch immer bestehen in der Bevölkerung große Bildungsdefizite. Viele Menschen kennen ihre Rechte nicht und finden sich im Dschungel der Bürokratie nicht zurecht. Zudem lähmt Angst die kambodschanische Gesellschaft. „Die Menschen akzeptieren das Verhalten der Regierung. Sie haben zu schlimme Kriegserfahrungen, sie sind seit Jahrzehnten traumatisiert“, erläutert Neuk Sarin von Star Kampuchea. Der Bibliothekar Thonevath Pou formuliert es so: „Die Kambodschaner heute sind wie ein Hund, der zu oft geschlagen wurde, und jetzt haben sie keine Kraft mehr für Widerstand.“ Pou hat dreißig Jahre in Deutschland gelebt und baut seit seiner Rückkehr das komplett zerstörte Bibliothekswesen im Land wieder auf. „Meine Freunde und Verwandten resignieren. Sie wissen, dass sie keine Macht haben, etwas zu sagen.“
So ist schon jetzt unumstritten, dass die regierende Kambodschanische Volkspartei (CPP) die Parlamentswahlen am 27. Juli gewinnen wird, obwohl das Wirtschaftswachstum kaum bei den Menschen ankommt und die Landkonzessionen ihre Lebensgrundlage gefährden. Denn was die Manipulationen, die nach Aussagen von NGO-Mitarbeitern bereits in vollem Gange sind, nicht schaffen, erreichen Einschüchterungsversuche. Die Regierung drohe den Menschen, wenn sie die Opposition wählten, gebe es Verhältnisse wie zu Rote-Khmer- Zeiten, sagt die deutsche Anwältin Andrea Behm, die drei Jahre in Kambodscha eine lokale Organisation beraten hat. Auch nach den Urteilen des Tribunals könnten der Regierung zufolge Unruhen ausbrechen.
Angst hindert viele Menschen daran, sich mit der Vergangenheit aktiv auseinanderzusetzen. In den Gedenkstätten Tuol Sleng, dem Foltergefängnis in Phnom Penh und dem etwas außerhalb gelegenen Vernichtungslager Choeung Ek, auch als Killing Fields bekannt, sieht man fast nur Ausländer. „Es kommen zu wenige Kambodschaner. Sie interessieren sich nicht genug dafür“, bedauert Sok Kheany Ly vom Documentation Center of Cambodia. Die Organisation sammelt Material aus der Zeit der Roten Khmer und setzt sich für eine Aufarbeitung ein, unter anderem indem sie ihre umfassende Dokumentation dem Tribunal zur Verfügung stellt und Menschen aus den Dörfern durch das Gericht, durch Tuol Sleng und Choeung Ek führt.
„Auf dem Land leben Mörder und Opfer zusammen, sie vergeben sich nicht, sondern ignorieren einander“, hat der französische Pater Francois Ponchaud in den vielen Jahren, in denen er in Kambodscha lebt, festgestellt. „Sie lächeln sich an, und dieses Lächeln ist wie eine Maske, um ihre wahren Gefühle zu verbergen.“ Dennoch ist der katholische Missionar gegen das Tribunal: „Eine kambodschanische Lösung ist nötig.“ 1996 habe sich Ieng Sary ergeben, der Außenminister Pol Pots und dritter Mann in der Hierarchie der Roten Khmer. Ministerpräsident Hun Sen habe ihn begnadigt, „weil Hun Sen Frieden will. Er zieht den Frieden der Gerechtigkeit vor. Ich glaube, das ist ein guter Weg.“ Der ehemalige buddhistische Mönch Rin Mony Chanto teilt diese Auffassung: „Es kann sein, dass die Menschen sehr verletzt sind. Aber die meisten haben inzwischen vergessen, was in der Vergangenheit geschehen ist.“ Durch die Berichterstattung über das Tribunal würden sie erneut traumatisiert.
Die meisten Kambodschaner heißen das Tribunal jedoch gut, weil sie sich Gerechtigkeit davon erhoffen. „Wir fragen uns alle noch, was Pol Pot so erfolgreich gemacht hat, deshalb können wir das Buch der Geschichte noch nicht zuklappen“, sagt Yeng Virak von Star Kampuchea. Diese Frage zumindest in Ansätzen zu beantworten sehen die Beteiligten am Tribunal als ihre Aufgabe. „Die Menschen erwarten, dass wir herausfinden, was tatsächlich passiert ist und wer auf hoher Ebene dafür verantwortlich war“, so Stuart Ford aus dem Anklägerteam. „Ich hoffe, dass das Tribunal zur Versöhnung beitragen kann. Wenn die Menschen verstanden haben, was geschehen ist, können sie es leichter akzeptieren.“
Für viele ist es allerdings schwer zu verstehen, dass die Justiz nur beschränkte Möglichkeiten hat und lediglich die führenden Köpfe zur Verantwortung gezogen werden. Tausende Täter können unbehelligt weiterleben. „Ich kenne den Mann, der meine Eltern umgebracht hat, aber ich kann nichts tun, weil nur die Anführer vor Gericht gestellt werden“, erzählt Yin Nimola, die Leiterin einer Frauenorganisation, resigniert. Die Urteile des Tribunals werden die Aufarbeitung nicht beenden. Im Gegenteil: Einige der Nachgeborenen fangen gerade erst damit an. Wie Sin Putheary und ihre Kommilitonen in Phnom Penh mit ihren Filmen.
Natalia Matter ist Redakteurin beim Evangelischen Pressedienst (epd) in Frankfurt am Main.
welt-sichten 7-2008